Am offenen Herzen
Dauerbaustelle A2
Am offenen Herzen
So funktioniert die Großbaustelle auf der Autobahn A2.
Die A2 ist Hauptachse zwischen Ost und West. Fußballfans aus NRW kennen sie, wenn es zum Pokalfinale nach Berlin geht. Für viele Berufspendler und LKW-Fahrer ist sie nur ein anonymer Abschnitt, der bewältigt werden muss, um ans Ziel zu kommen. Dem, der mit offenen Augen reist, bietet sie Strukturwandel pur.
Allein im Teilabschnitt zwischen Dortmund-Nordost und dem Kamener Kreuz rollen täglich um die 63.000 Fahrzeuge über die Fahrbahn. Bis 2017 soll hier saniert und ausgebaut werden. Bereits in den Anfangswochen der Großbaustelle kam es zu mehreren schweren Unfällen mit Toten und Verletzten.
Wie ist das, wenn man hier arbeiten, leben, durchkommen muss? Kehrt hier irgendwann mal Ruhe ein? Wo findet man Stille und Entspannung?
Wir sind ins Auto gestiegen und von Dortmund nach Kamen gefahren, um von Menschen, Geschichten und Überraschungen zu berichten, die man hier, direkt an der A2 erleben kann, während unter Hochdruck am offenen Herzen operiert wird.
Geschichte, Zahlen und Fakten
Wissenswertes rund um die A2
Die A2 ist eine der meistfrequentierten Autobahnen Deutschlands. Sie beginnt im westlichen Ruhrgebiet bei Oberhausen. Am Nordrand des Ruhrgebiets streift sie die Städte Gelsenkirchen, Recklinghausen, Dortmund und Hamm. Auf ihrem Weg nach Osten führt sie weiter durch das südliche Münsterland. Bei Rheda-Wiedenbrück erreicht sie Ostwestfalen. Vorbei an Gütersloh und Bielefeld durchquert sie den Teutoburger Wald. Bei Porta Westfalica verlässt die A2 Nordrhein-Westfalen und führt weiter durch Niedersachsen.
Schon in den frühen 1930er-Jahren begannen die Planungen für die heutige A2. Ende 1934 begannen die ersten Arbeiten. Die Autobahn sollte Berlin mit der Rhein-Ruhr-Region verbinden. Laut Straßen.NRW war der Abschnitt zwischen Recklinghausen und Gütersloh am 12. November 1938 für den Verkehr freigegeben. Inklusive Kamener Kreuz, an dem die heutige A1 die A2 kreuzt. Es war das erste Autobahnkreuz in Kleeblatt-Ausführung in Deutschland. Im August 1939 waren die Arbeiten des letzten NRW-Teilstücks zwischen Bielefeld und Eisbergen beendet.
Mit der Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die A2 an Bedeutung. Sie galt vor allem als Verbindung von Nordrhein-Westfalen nach Hannover und Hamburg.
Erst 1965 wurde die A1 zwischen Münster und dem Kamener Kreuz fertiggestellt; die verbleibende Lücke weiter nach Bremen wurde erst 1968 geschlossen. Die „Hansalinie” war damit durchgehend fertig und eine direkte Verbindung von Rhein-Ruhr nach Bremen und Hamburg geschaffen. Damit bekam das Kamener Kreuz seine überragende Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt.
Die politische Wende in der damaligen DDR und den ostmitteleuropäischen Ländern 1989 und die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten im Jahre 2004 ließ die Bedeutung der A2 extrem ansteigen. Der Ost-West-Verkehr nahm stark zu, und die A2 wurde zur europäischen Magistrale, zur Hauptverkehrslinie, zur Warschauer Allee.
Der tägliche Wahnsinn
So stressig und gefährlich ist die Arbeit auf der A2.
Ein ganz normaler Mittwochmorgen auf der A2. Kurz vor dem Kamener Kreuz heizt der Verkehr über die Fahrbahn. Auf der abgesperrten Baustelle gleich nebenan auf dem Standstreifen findet gerade eine hitzige Diskussion statt.
Als Horst Schenkel, Projektleiter von Straßen.NRW, mit seinem roten Firmen-Bulli vorbeifährt, schüttelt einer seiner Bauüberprüfer den Kopf und signalisiert mit den Armen: Abbruch! Am offenen Wagenfenster erklärt er: „Immer noch ohne Spritzschutz – die können jetzt aufhören.“ Ein Subunternehmen aus Süddeutschland hat trotz Verwarnung einen großen Straßenbohrer ohne die nötigen Sicherheitsvorkehrungen benutzt.
„Der Vorarbeiter ist jetzt natürlich sauer. So ging das schneller, aber wir können das natürlich nicht zulassen, weil es nicht den Sicherheitsvorschriften genügt“, sagt Schenkel. Wann das Unternehmen jetzt weiterarbeiten kann, ist in diesem Moment noch unklar. Es ist eine Situation, die seinen Job erklärt. „Du kannst so lange planen, wie du möchtest. Eine Baustelle auf einer Autobahn bedeutet Improvisation“, sagt er fast schon stoisch entspannt.
Die Improvisation als Normalzustand scheint ihn kalt zu lassen. Es ist sein Alltag. Die Autobahn 2 zwischen der Anschlussstelle Kamen/Bergkamen und dem Autobahnkreuz Dortmund-Nordost ist für gut zwei Jahre sein Wohnzimmer. Oder besser gesagt: sein Büro.
Die A2 ist eine der meistbefahrenen Autobahnen in Deutschland. Der LKW-Anteil liegt zwischen gewaltigen 17,2 und 18 Prozent. „Die letzte Messung ist von 2010, eigentlich müssen wir die Zahl noch nach oben korrigieren”, sagt Horst Schenkel. Am A2-Messpunkt zwischen Hamm-Uentrop und Beckum stieg der LKW-Anteil bei der Zählung 2010 sogar auf 23,7 Prozent. Einen deutschen Durchschnittswert zum Vergleich gibt es nicht, aber auf vielen deutschen Autobahnen liegt der LKW-Anteil lediglich zwischen 8 und 12 Prozent, auf der A30 seien es beispielsweise 13 Prozent, weiß Schenkel.
Die steigende Frequentierung der A2 belastet den Asphalt extrem. Seit März 2015 saniert die Straßen.NRW-Autobahnniederlassung Hamm das Teilstück zwischen Kamen/Bergkamen und Dortmund-Nordost. Ein notwendiger Eingriff. Es ist eine 9,3 Kilometer lange Baustelle. Auf einem Streckenabschnitt, den täglich rund 63.000 Fahrzeuge nutzen. „Das ist eine Operation am offenen Herzen“, sagt Schenkel pathetisch und findet dabei wohl kaum passendere Worte, um die Situation hier zu beschreiben.
Die Zahlen aus den Verträgen lassen das Ausmaß der Großbaustelle erahnen: 21.000 Kubikmeter Boden tragen die Straßenarbeiter bis 2017 ab. 100.000 Meter gelbe Übergangsmarkierung für die Zeit der Baustelle werden hergestellt, nur um nachher 50.000 Meter neue Markierung aufzutragen. Auch 1,5 Kilometer Kanal müssen auf der Autobahn neu verlegt werden. Knapp 70.000 Kubikmeter neue Tragschicht kommt auf die A2. Dann soll sie 2017 runderneuert sein. Und der Baustellenärger Geschichte.
Der unangenehmste Nebeneffekt bis dahin: Staus und Unfälle. Faktoren, die die Arbeiten auf der Autobahn für alle Beteiligten schwierig machen und die sich unmittelbar auf frustrierte Pendler und unzufriedene LKW-Fahrer übertragen.
„Wir wurden ehrlich gesagt selbst überrascht“, sagte Markus Miglietti vom Landesbetrieb Straßenbau.NRW im Mai, mit so schweren Unfällen habe man zuvor nicht gerechnet. Die Anfangsphase der Baustelle mit fünf schweren und einem tödlichen Unfall in drei Monaten war einfach nur erschütternd.
Und das obwohl der 2009 abgeschlossene, sechsspurige Ausbau rund um das Kamener Kreuz den Verantwortlichen beim Straßenbaubetrieb noch gut in Erinnerung war. Auf der vier Jahre andauernden Baustelle „gab es viele Unfälle am Stauende - und leider auch viele Tote“, erzählt uns ein Mitarbeiter von Straßen.NRW.
Webcams zeigen live, was auf der Autobahn los ist
Der Landesbetrieb ergriff aus Erfahrung im Vorfeld Maßnahmen gegen die Unfallgefahr: „Wir haben dynamische Stauwarnanlagen installiert, die auf ein Stau-Ende hinweisen”, sagt Schenkel. Zudem gibt es Nothaltebuchten, Rettungsspuren für Polizei, Krankenwagen und Feuerwehr. Außerdem übertragen vier Webcams Livebilder der Baustelle ins Internet, „so, dass sich jeder schon vor Reiseantritt oder auch mobil von unterwegs ein Bild von der Lage vor Ort machen kann“. „Es gibt zwar keine Zugriffszahlen, aber für Pendler oder LKW-Fahrer ist das ein sehr nützliches Tool.“
Anfang Mai 2015 ereignete sich dann trotz aller Maßnahmen ein tödlicher Unfall (wir berichteten). Ein 23-Jähriger wurde im Fahrerhaus seines LKW eingeklemmt und starb noch an der Unfallstelle. Am Stau-Ende zwischen dem Kamener Kreuz und der Anschlussstelle Kamen/Bergkamen waren drei LKW ineinander gefahren.
„Man könnte meinen, dass es in der Baustelle am Schlimmsten ist. Der Unfall-Schwerpunkt ist aber davor. Am Stau-Ende“, sagt Winfried Böttcher, Wachleiter bei der Autobahnpolizei in Kamen, die die Baustelle zusammen mit Straßen.NRW betreut. „Dahinter stecken menschliche Fehler, Unachtsamkeit durch Ablenkung“, so Böttcher. „So, wie diese Baustelle zwischen Dortmund und Kamen/Bergkamen organisiert ist, könnte man Unfälle nicht besser verhindern, außer den Verkehr abzuschaffen“, sagt Böttcher heute.
Es blieb bis heute der einzige tödliche Unfall auf der Strecke. Nachdem er passiert war, baute die Polizei in Zusammenarbeit mit Straßen.NRW Sicherheitsvorkehrungen aus. Neue, mehrsprachige Leuchtsignal-Warnschilder wurden installiert, mit dem klaren Hinweis „Abstand“ zu halten. Diese sollen insbesondere LKW-Fahrer – auch aus dem Ausland - auf die Gefahrensituation und rücksichtsvolleres Fahrverhalten aufmerksam machen – gerade wichtig an der Baustelleneinfahrt, in deren Schleuse sich aus Erfahrung die meisten tödlichen Unfälle ereignen. Eben dort, wo der Stau entsteht. Außerdem installierte die Polizei als Reaktion auf die Unfälle eine CB-Funkanlage. LKW-Fahrer werden damit in mehreren Sprachen auf die Stauentwicklung aufmerksam gemacht.
Warum aber haben Straßen.NRW und die Polizei die zusätzlichen Warnschilder und den CB-Funk erst nachträglich installiert? Wurde zu Baustellenbeginn zu wenig getan, um Unfälle zu verhindern?
„Nein. Das war ganz klar eine Zusatzmaßnahme. Die Baustellen waren auch vorher schon ausreichend gesichert“, sagt Schenkel von Straßen.NRW. „Die Verkehrssicherheit ist ja für uns sowieso das Wichtigste.“ Auch Winfried Böttcher von der Autobahnpolizei sieht das so. „Das ist kein Versäumnis. Weder von Straßen.NRW noch von uns. Die Beschilderung warnte ja auch vorher schon vor Stauentwicklung.“
Dass die Beteiligten ihre Arbeit so einschätzen, liegt nahe, aber auch Zahlen untermauern das, laut der Polizei. „Im Zeitraum vom 11. Mai bis zum 18. September gab es 161 Sachschaden- und 18 Personenschadenunfälle im gesamten Baustellengebiet - inklusive der Stauentwicklung vor und hinter den Baustellen”, sagt Jan Buchholz, Sprecher der Polizei Dortmund. „Zwar gibt es keine Vergleichszahlen für diesen Streckenabschnitt und eine Baustelle ist natürlich immer mit mehr Unfällen verbunden.” Allerdings schätze die Polizei das Unfallvorkommen als “recht unauffällig” ein. Auch das Verhältnis von Sachschaden- und Personenschadenunfällen liege, laut Buchholz, im Schnitt der globalen Statistik. „Zu Beginn gab es natürlich viele schlimme Unfälle - auf den gesamten Baustellenzeitraum relativiert sich das aber.”
Auch Dr. Peter Meintz, Pressesprecher vom ADAC Westfalen, sieht kein Fehlverhalten von Straßen.NRW oder Polizei: „Mit dem Baustellenmanagement sind wir sehr zufrieden. Es gibt klare gesetzliche Regelungen und Richtlinien. Daran haben sich Straßen.NRW und Polizei gehalten. Aber was nützen die besten Regeln, wenn man sie nicht befolgt.“
Was Meintz meint: „Die Arbeiten an sich sind ein notwendiges Übel. Aber Staus entstehen durch Fahrfehler und die meisten Unfälle wären vermeidbar. Da wurden keine Fehler bei der Baustellenplanung gemacht – es gibt ein Fehlverhalten der Autofahrer.“ Falsche Geschwindigkeit, Überholen in der Baustelle, rücksichtsloses Fahren - all das kann zu einem Stau führen. Und natürlich auch zu Unfällen. Meintz geht es aber auch um Ablenkung durch Smartphones oder Navis, die ein entstehendes Stau-Ende zur großen Gefahr werden lässt.
Planung ist die halbe Miete
Auf dem Parkplatz Paschheide ist das Baustellenbüro von Straßen.NRW eingerichtet. Für die knapp zehn Kilometer lange Baustelle gibt es zwei Bauüberprüfer, die von hier aus die Arbeiten auf der Straße kontrollieren. Sie sind die Verbindung von Horst Schenkel zu den rund 30 bis 40 Arbeitern, die täglich auf der A2 zwischen Dortmund und dem Kamener Kreuz im Einsatz sind. Hier im Baustellenbüro finden jeden Dienstag Baubesprechungen statt. Mit Subunternehmen, Vertretern von Straßen.NRW, Ingenieuren und einem Beamten der Autobahnpolizei: Was ist die Woche passiert? Wo gibt es Verzögerung? Wo Probleme und Lösungen? Wie können neue Unfallschwerpunkte oder Problemstellen verhindert werden? „Das ist eine dynamische Baustelle, es ändert sich immer etwas”, sagt Schenkel.
An den Wänden der Container-Büros hängen komplizierte Bauzeitpläne und Strecken-Querschnitte, die für Laien fast hieroglyphische Züge haben. Welche Arbeiten sollen wann passieren? Welcher Asphalt wird wo verbaut? Wie tief wird wo die Straße aufgemacht? Wann können Folgearbeiten gemacht werden? „Da müssen auch wir am Anfang schlucken, wenn wir das sehen“, gibt Schenkel lächelnd zu. Die acht Bauphasen sind penibel geplant worden und sollen stellenweise aufeinander aufbauen. Ein Jahr lang hat sich Straßen.NRW auf die Baustelle vorbereitet und detaillierte Pläne erstellt. Verschiebungen gibt es aber trotzdem.
„Ein Jahr Planung ist gar nichts“, sagt Schenkel. „Aber da sind wir wieder bei der Improvisation. Regen ist der Feind des Straßenbaus und es müssen auch über fünf Grad sein, damit wir Asphalt einbauen können. Diese Bedingungen können wir natürlich nicht genau voraussehen.“ Bislang wird der Zeitplan eingehalten. Die Arbeiten befinden sich in der dritten Bauphase. Die Grunderneuerung des Standstreifens und der ersten Spur in Richtung Oberhausen. Im November soll es mit den Spuren 2 und 3 weitergehen. Voraussichtlich Ende Sommer 2017 sollen alle acht Bauphasen an der A2 komplett abgeschlossen sein.
Straßen.NRW investiert 34,1 Millionen Euro aus Bundesmitteln. Horst Schenkel blättert gezielt in einem dicken, rund 1000 Seiten starken Vertrag mit einem Subunternehmer. Jeder Quadratmeter Asphalt ist hier festgehalten, jedes zu verbauende Gramm Material, jede Arbeitsstunde. Schenkel geht es aber um etwas anderes: Pro Werktag Verzögerung zahlt eine Firma 8000 Euro. Das ist etwas, das nicht passieren darf. Eben, weil so viele Menschen von den Arbeiten betroffen sind. „Warum arbeitet dann manchmal niemand auf der Baustelle?“, zitiert Schenkel eine häufige Frage der Verkehrsteilnehmer.
Der Projektleiter beantwortet sie auf der Autobahn gut einen Kilometer weiter Richtung Oberhausen. Eine Eisenbahnbrücke vor der Abfahrt Lünen-Ost. „Kritischer Weg“ nennt man die Stellen der Strecke, die die ganze Maßnahme verzögern können. „Wenn wir an dieser Brücke einen Tag Verzögerung haben, dann dauert die ganze A2-Baustelle einen Tag länger“, erklärt Schenkel. An anderen Stellen schafft das Kapazitäten. Hier an der Brücke wird durchgehend an sechs Werktagen in der Woche gearbeitet, an anderen Stellen müssen nicht täglich Arbeiter sein, um den Termin zu schaffen. „Für den Autofahrer ist das natürlich schwer zu erkennen, wo diese ‘kritischen Wege‘ sich befinden.“
Im Hintergrund arbeiten zwei Straßenbauer eines französischen Subunternehmens mit einem Hochdruck-Wasserstrahl. „Teuer“, schreit Schenkel, um den ohrenbetäubenden Lärm zu übertünchen. Der Boden vibriert, die Arbeiter tragen einfachen Hörschutz. Von den Autos, die wenige Meter weiter über die engen Baustellenspuren preschen, ist nichts mehr zu hören. Mit dem Wasserstrahl trennen die Arbeiter hier den brüchigen Beton ab, die Bewehrung - die Stahlgitter-Konstruktion im Beton, die die Zugspannung in der Brücke aufnimmt - bleibt heil. Der Beton kann danach einfach erneuert werden. Eine teure Variante, wie Schenkel bemerkt, aber schnell. Und sie funktioniert ohne dass man die Brücke komplett sperren muss.
Dauerstress und Lebensgefahr
Hier, wo die Arbeiter mit einem Wasserstrahl arbeiten, der einem ohne Problem den Arm abtrennen könnte, wo unter ihnen die Zugverbindung zwischen Dortmund und Lünen verläuft und wenige Meter weiter der Verkehr weiterpeitscht, wo der Lärm einem schon nach wenigen Minuten den Nerv rauben will, erhält man einen guten Einblick in die andere Welt der Baustelle. „Hier ist kein Imbiss um die Ecke, die Toiletten sind Hunderte Meter weit weg und eine Blondine kommt hier auch nicht vorbei“, sagt einer. Stattdessen: genervte Autofahrer. „Sehr oft hören wir von Straßenarbeitern, die angepöbelt, beschimpft und sogar mit Kaffeebechern beschmissen werden“, erzählt Dr. Peter Meintz vom ADAC. Und das, obwohl ihr Arbeitsplatz nicht nur ungemütlich, sondern auch gefährlich ist. „Statistisch gesehen stirbt jedes Jahr ein Mitarbeiter von Straßen.NRW während seines Dienstes auf der Straße”, so eine Einschätzung auf der Internetseite des Unternehmens.
Seit 1993 gab es rund 485 Unfälle bei denen sich Mitarbeiter von Straßen.NRW durch fremdverschuldete Unfälle verletzten. Das registrierte die Abteilung Arbeitssicherheit des Landesbetriebes. Noch einmal so viele Unfälle hatten lediglich Sachschäden zur Folge. Die Beschäftigten erlitten teils schwere Prellungen, Frakturen, oder Schocks. 18 Beschäftigte von Straßen.NRW kamen bei diesen Unfällen ums Leben. Das Risiko eines Straßenwärters, bei einem Arbeitsunfall ums Leben zu kommen, ist laut Straßen.NRW 13 Mal höher als in der gewerblichen Wirtschaft.
Aber nicht nur die tödlichen Unfälle sind Straßen.NRW zu viel. Generell zu Unfällen, bei denen Straßenarbeiter verletzt werden, sagt Straßen.NRW-Hauptgeschäftsführer Wilfried Pudenz: „Was als Personenschaden registriert wird, hört sich nach Versicherungsmathematik an, dahinter stecken aber Schicksale: Es sind Menschen, die oft wochen- oder monatelang aus dem Arbeits- und dem Familienleben herausgerissen werden und manchmal ihr Leben lang an den Folgen leiden”, so Pudenz. „Hier arbeiten Menschen für die Verkehrssicherheit. Die Autofahrer sollten sich und unsere Kollegen nicht durch Unachtsamkeit gefährden.” Dr. Peter Meintz ergänzt: „Baustellen sind nötig. Die Westdeutschen haben vergessen, wie die Autobahnen im Osten nach dem Mauerfall aussahen – nachdem 40 Jahre nichts gemacht wurde.“
Appgelenkt
Moderne Technik als Risiko und Chance.
Wir hören immer wieder: Nicht die engen Baustellen-Straßen sind das größte Problem. Straßen.NRW, die Polizei, der ADAC oder die LKW-Fahrer auf der Raststätte vor Ort, sie alle sind sich einig: Die Gefahr auf der Autobahn entsteht nicht in, sondern vor der Baustelle – am Stau-Ende. Warum? „Was die Leute alles so im Auto machen ist Wahnsinn“, sagt Dr. Peter Meintz vom ADAC. „Die Polizei in Baden-Württemberg hat mit einer Kamera in Fahrerkabinen gefilmt, um das Verhalten zu analysieren. Da haben Leute telefoniert, masturbiert, sich die Fußnägel geschnitten – da ist alles dabei.” Tragen Smartphone-Apps und Co. wirklich zu einer so extrem erhöhten “Applenkungs-Gefahr” bei?
„Smartphone nutzen, Nägel knipsen, masturbieren“
„Natürlich zeigt es sich, dass besonders die Ablenkung durch Smartphones eine immer größere Rolle spielt“, so der ADAC-Sprecher. „Wie die Ablenkung durch Handybenutzung sich beispielsweise auf den Bremsweg auswirkt, ist laut Meintz schwer zu sagen. „Man kann das beobachten und analysieren, aber schwer bemessen.“ Erheblich ist die Auswirkung ohnehin. Erst recht bei Autobahngeschwindigkeiten.
Warum das Stau-Ende zur tödlichen Falle werden kann
Das generelle Problem: Das Autofahren wird zur Nebensache. Auch Winfried Böttcher von der Autobahnpolizei in Kamen schlägt in diese Kerbe: „Wir können das nicht nachvollziehen. Die Beschilderung ist da und die Stellen gut einsehbar, trotzdem passieren Unfälle. An der A2 vor Bergkamen gibt es einen höher gelegenen Abschnitt, der gut einen Kilometer vorher einsehbar ist, trotzdem sind da schon Auffahrunfälle am Stau-Ende passiert – das ist ja nur durch Ablenkung möglich.“
Infografik: So verlängern Navi, Handy und Co. den Bremsweg
Die Autobahnpolizei hat auf der A2 während der Baustelle einen Schwerpunkt gesetzt. Vermehrt sind Streifenwagen auf der Strecke im Einsatz. „Wir arbeiten vor allem durch repressive Maßnahmen – schauen also, ob Verkehrsteilnehmer während der Fahrt ihr Smartphone benutzen, ob überbreite PKW oder LKW sich ans Überholverbot halten und ob der Abstand eingehalten wird“, erklärt Böttcher die Hauptarbeit. „So versuchen wir natürlich auch ein Bewusstsein zu schaffen. Dass sich viele Verkehrsteilnehmer nicht an so was halten, kann ich nicht nachvollziehen.“
Das meint auch Meintz: „Die Schwierigkeit ist es, den Leuten klar zu machen, was sie da tun. Weil sie machen einfach so weiter.“ Die Ablenkung ist aber nicht das einzige Problem, das er sieht. „Aspekt Müdigkeit: Viele LKW-Fahrer überschätzen ihre Fähigkeiten. Das spielt natürlich besonders auf der A2 eine Rolle. Da kommen viele Fahrer aus Polen oder Tschechien, die schon sieben bis zehn Stunden unterwegs sind. Wer über einen toten Punkt hinwegfährt, landet häufig im Krankenhaus“, sagt Meintz zwar plakativ, aber er meint es ernst. Ebenfalls ein Faktor sei die Monotonie einiger Autobahnen. „Besonders monotone Autobahnen haben höhere Unfallzahlen, die A2 ist dafür ein gutes Beispiel. Durch die vielen Schallschutzwände schauen Verkehrsteilnehmer immer nur auf die gleiche Umgebung.“
Zuviel gewollte Ablenkung am Straßenrand darf es aber auch nicht geben. Und so wurde ein mehrstufiges Smiley-Konzept, das den Verlauf einer Baustelle begleiten sollte, doch wieder über den Haufen geworfen.
Gefahren lauern also überall, trotzdem wollen die Experten kein Horrorszenario zeichnen. „Wir haben erheblich mehr Unfälle auf der Baustellenstrecke auf der A2 erwartet, als es jetzt tatsächlich sind“, sagt Böttcher nach mittlerweile einem knappen halben Jahr. „Natürlich sind wir mit der Unfallentwicklung nicht zufrieden – das sind wir nie. Einfach, weil wir nicht alle Unfälle verhindern können. Aber die Zahlen sind auf jeden Fall positiv.“ Die fünf schweren Unfälle in den ersten beiden Monaten der Baustelle scheinen sich - zumindest statistisch - relativiert zu haben.
Autonomes Fahren – wird die A2 in Zukunft unfallfrei?
Apps für die Navigation und zur Stauumgehung sind als technische Hilfsmittel beim Autofahren nicht mehr wegzudenken. Noch klingt es nach Science-Fiction, aber bald könnten auch selbstfahrende Fahrzeuge Realität auf Deutschlands Straßen werden. Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt erklärte zuletzt den bayerischen Abschnitt der A9 zur Teststrecke. Verhindert autonomes Fahren bald Unfälle komplett? „Das ist noch kein Thema, das ist noch ganz weit weg“, sagt Dr. Peter Meintz vom ADAC. „Was viel wichtiger ist: Automatische Bremssysteme werden bald Pflicht. Das dauert keine zehn Jahre mehr – so könnte man diese verdammten Auffahrunfälle verhindern.“ Nach der Ansicht des Fachmannes werden teilautonome Systeme, wie zum Beispiel auch Spurhalter, die Unfallzahlen schon in naher Zukunft positiv beeinflussen. „Man darf diese Systeme natürlich nicht überschätzen, aber sie werden ihre Effekte haben.“ Der Mensch bleibt also immer der wichtigste Faktor im Verkehr.
So lassen sich Staus und Unfälle vermeiden
Horst Schenkel steigt wieder in seinen roten Bulli, fährt weiter zum „neuralgischen Punkt“ seiner Baustelle. Er steht auf der
Baustellenspur an der A2-Anschlussstelle Dortmund-Nordost. Hier fließt der Verkehr der B236 auf die A2. Ja, gerade fließt er. Sekunden später: Bremslichter. Die Autos stehen. „Jetzt ist eigentlich nichts passiert, kein Unfall oder ähnliches, trotzdem staut es sich. Wir können oft gar nicht sagen, woran das liegt“, sagt Schenkel, wie ein Mathematik-Professor, der versucht eine komplizierte Gleichung zu lösen. Wenige Minuten später hat sich der leichte Stau wieder aufgelöst. Dieser Abschnitt ist der einzige auf der zehn Kilometer langen Baustelle, den Straßen.NRW nach Beginn der Arbeiten nachjustieren musste.
„Wir haben die Stelle nach dem Regelwerk geplant, aber die Stauentwicklung konnten wir nicht hinnehmen. Es gab Rückstau bis zur B236“, erzählt Schenkel. Er räumt das gerne ein. Seit 2001 arbeitet der Projektleiter beim Landesbetrieb und fährt regelmäßig raus. „Das ist kein Behördenjob“, sagt er lachend, während er den Verkehr beobachtet. Bei seiner Arbeit muss er ständig zwischen Anzugjacke und Sicherheitskleidung wechseln. Er scheint die Abwechslung zu genießen.
Wegen des Rückstaus zur B236 hat der Landesbetrieb die Verflechtungsspur verlängert. Es ist seitdem besser geworden, aber zu Stau kommt es trotzdem noch. „Wenn rücksichtsvoller gefahren würde, würde es wohl flüssiger laufen. Aber immer können wir uns das nicht erklären.“ Privat liebe er Staus, sagt er - im Gegensatz zu seiner Frau. Beruflich würde er sie gerne ganz verhindern. „Das ist ein bisschen so, als würde man einen Karstadt komplett sanieren, aber gleichzeitig noch den gleichen Umsatz wie vorher erzielen müssen.“
Es geht voran
So arbeitet sich Strassen.NRW bis 2017 die Autobahn entlang.
Die Straßen.NRW-Autobahnniederlassung Hamm saniert seit März 2015 auf der A2 zwischen der Anschlussstelle Kamen/Bergkamen und dem Autobahnkreuz Dortmund-Nordost 9,3 Kilometer Fahrbahn und fünf Brücken.
Bis Mitte 2017 führt der Landesbetrieb in insgesamt acht Bauphasen Sanierungsarbeiten an der Fahrbahndecke und den Brücken durch. Darüber hinaus werden defekte Entwässerungsleitungen erneuert, ebenso die Straßenmarkierungen und die Schutzeinrichtungen entlang der Strecke. Während der Bauarbeiten sind die Anschlussstellen Kamen/Bergkamen und Lanstrop zeitweise gesperrt.
Die Bauphasen 1 und 2 hat Strassen.NRW bereits abgeschlossen. Sechs weitere folgen noch bis Sommer 2017. Fahren sie mit der Maus über die Bauphasen (Zahlen von 1 bis 8), um zu erfahren, wann welche Bauarbeiten an der A2 anstehen.
Ein Blick in die Zukunft
Nichts zu meckern?
Wir haben die Polizei gefragt, wie zufrieden sie mit der Baustelle und der Situation auf der Autobahn ist.
Stillleben an der A2
Ruhe am Rand der Autobahn.
Der Lärm und die Hektik auf der A2 sind nervenaufreibend. Ein Ort, den man schnell wieder verlassen will. Arbeiter, Pendler und LKW-Fahrer wissen das. Wir haben deswegen auch die Ruhe am Rand der Autobahn gesucht. Im Wald am Galgenberg in Kamen findet man zwar grüne Idylle, aber die Nähe der Autobahn lässt sich nicht verleugnen. Es ist laut. Vielleicht auch deswegen ist hier auch an sonnigen Tagen wenig los. Hier, am Rande der Autobahn prallen Welten aufeinander. So wie auf dem Friedhof in Overberge. Das Treiben auf der Autobahn ist hier nur noch durch ein fernes Rauschen zu erahnen. Oder im kleinen Dortmunder Freibad des Schwimmvereins Derne 1949, wo die Zeit seit den 60er-Jahren stehen geblieben zu sein scheint. Klicken Sie sich über die Pfeile durch die Fotostrecke mit Stillleben an der A2.
Autoren und Mitwirkende
Texte: Ferry Radix, Nils Lindenstrauß
Fotos: Nils Lindenstrauß, Peter Bandermann, DPA
Videos: Kevin Kisker, Nils Lindenstrauß
Programmierung: Nils Lindenstrauß
Gestaltung: Nils Lindenstrauß, Debora Mühe
Idee und Konzept: Nils Lindenstrauß
Kontakt: onlineteam@mdhl.de
Sprecherstimme: Mathias Scherff
Musik: Nils Lindenstrauß
Die Reportage verwendet Audios von Radio 91.2 und BerlinAtmospheres.
Verlag Lensing-Wolff GmbH & Co. KG
Westenhellweg 86-88, 44137 Dortmund
Sitz Dortmund, Amtsgericht Dortmund, HRA 12780
Komplementärin: Verlag Lensing-Wolff Verwaltungsgesellschaft mbH
Sitz Dortmund, Amtsgericht Dortmund, HRB
Geschäftsführer: Lambert Lensing-Wolff, Christoph Sandmann, Hans-Christian Haarmann
Verantwortlich i.S.v. § 55 RStV: Dr. Wolfram Kiwit
Online-Streitbeilegung
Die Europäische Kommission stellt unter http://ec.europa.eu/consumers/odr/ eine Plattform zur außergerichtlichen Online-Streitbeilegung (sog. OS-Plattform) bereit.
Keine Bereitschaft zur Teilnahme an Streitbeilegungsverfahren
Der Unternehmer ist grundsätzlich nicht bereit und verpflichtet, an Streitbeilegungsverfahren vor Verbraucherschlichtungsstellen im Sinne von § 36 Abs. 1 Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) teilzunehmen. Davon unberührt ist die Möglichkeit der Streitbeilegung durch eine Verbraucherschlichtungsstelle im Rahmen einer konkreten Streitigkeit bei Zustimmung beider Vertragsparteien (§ 37 VSBG).
Video: Der Reise-Check Autobahn (daserste.de)
“Jetzt wird’s eng” - muss sich an den Baustellen etwas ändern oder braucht es neue Fahrzeug-Technik? (zeit.de)
Marie fehlt. Wie eine Mutter den Tod ihrer Tochter verarbeitet.
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Partner fürs Leben. Das Verhältnis von Dortmund und Zwickau 25 Jahre nach dem Mauerfall.
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Die schwarze Gefahr. Über eine Ölkatastrophe mitten in Deutschland.
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Westerfilde - ein Stadtteil am Abgrund.
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Ein neues BVB-Trikot für 15 Euro? Das kann nicht echt sein.
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