Ein Bauch voller Gefühle

Die Geschichte der Regenbogen-Babys

Freude und Angst. Panik und Glück. Eine Achterbahn der Gefühle. Auch Wiebke Pritz (alle Namen von der Redaktion geändert) hat sie bei ihrem zweiten Kind durchlebt. Denn diese Schwangerschaft war bereits ihre dritte.

Drei Jahre nach der Geburt ihrer Tochter war die Dortmunderin zum zweiten Mal schwanger. Ein Wunschkind. Beziehungsweise zwei. Denn die 37-Jährige erwartete Zwillinge. „Das war natürlich zunächst ein Schock. Aber dann haben wir uns riesig gefreut.“ Bis die Frauenärztin bei einem Kontrolltermin in der 11. Woche plötzlich die Stirn runzelte. Hektisch mit dem Ultraschallgerät über den Bauch fuhr. „Da wusste ich: Etwas stimmt nicht.“ Die Ärztin fand keinen Herzschlag mehr. Ein Baby war bereits seit zehn Tagen tot, das andere etwa eine Woche. „Das war das Schlimmste: Ich hatte vorher nichts gemerkt“, erinnert sich Wiebke Pritz.

Es folgten eine Ausschabung, Wochen voller Tränen und Zweifel, aber auch der Gedanke: „Vielleicht sollte es so sein.“ Die Kinder hatten sich eine Fruchtblase geteilt, die Schwangerschaft stand von Anfang an unter schwierigen Vorzeichen. Wiebke Pritz und ihr Mann ließen sich von diesem Rückschlag nicht entmutigen. Drei Monate nach der Fehlgeburt war sie wieder schwanger.

In ständiger Unsicherheit

„Ich bin eigentlich kein panischer Mensch“, erzählt die zweifache Mutter. Doch in den ersten Wochen ihrer Schwangerschaft war sie unglaublich unsicher. Ein krasser Unterschied gerade zur ersten Schwangerschaft. „Ich bin wöchentlich bei meiner Frauenärztin aufgeschlagen – unter fadenscheinigen Gründen.“ Die wären gar nicht nötig gewesen – die Ärztin hatte ihre langjährige Patientin schnell durchschaut. Und beruhigte die Schwangere, so gut es ging.

„Sie hat mir immer gesagt, ich darf jederzeit kommen, wenn ich unsicher oder nervös bin. Sie hat betont, weder ich noch das Kind hätten etwas davon, wenn ich mir zu Hause vor Angst die Nägel abkaue.“ Seelische Unterstützung, für die Wiebke Pritz sehr dankbar war und ist. „Meine Frauenärztin ist ein Schatz.“ Entspannter wurde die 37-Jährige erst nach dem ersten Trimester. „Und irgendwann wusste ich einfach: Alles wird gut.“

Die Unsicherheit der betroffenen Frauen erlebt auch Hebamme Ulrike Linnemann bei ihrer Arbeit. „Da wird jeder Pups zu einer vorzeitigen Wehe“, sagt sie mit einem leichten Schmunzeln. Doch die – oft irrationalen – Gefühle der Frauen nimmt die 61-Jährige ernst. „Viele Frauen sind wie getrieben. Sie arbeiten auf den Zeitpunkt hin, an dem die erste Fehlgeburt stattfand, können die Schwangerschaft gar nicht genießen.“

Die erfahrene Hebamme arbeitet in einer Praxis im Dortmunder Norden. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen kommt sie schon früh mit den Schwangeren in Kontakt. Ihr liegt es am Herzen, dass die betroffenen Schwangeren Stabilität bekommen: „Ich bin schwanger. Ich bleibe schwanger.“ Das ist das Mantra. Wen es beruhigt, der darf auch zwischen den Kontrollterminen mal eben schnell die Herztöne des Ungeborenen hören. „Das ist doch eine Sache von zehn Minuten.“

Lange bitten muss auch keine Patientin bei Beate Rensinghoff, Frauenärztin aus Hörde. „Ich erlebe, dass die allermeisten Frauen in der Schwangerschaft nach einer Fehlgeburt viel ängstlicher sind“, sagt die Expertin.

„Manche hätten am liebsten ein Ultraschallgerät zu Hause.“ Schließlich ist es die einzige Möglichkeit zu sehen: In diesem Moment geht es dem Kind gut. Beate Resinghoff betont: „Ich kann diesen Wunsch gut nachvollziehen.“ Deshalb gebe sie den Frauen das Gefühl: Das ist okay. Viele Schwangere, die eine Fehlgeburt durchlebt hätten, bräuchten viel mehr Beratung und auch mehr Termine. Die sie in der Praxis bekommen – ohne Zusatzkosten. „Es geht uns in dem Moment darum, was die Patientin braucht.“

Gleichzeitig betont die Ärztin im Gespräch aber auch, dass eine Schwangerschaft immer schicksalhaft sei. Wenn es gut gehen soll, geht es gut. Das habe man als Schwangere nicht in der Hand. Es ist ihr wichtig, den Frauen das mit auf den Weg zu geben.

Was habe ich falsch gemacht?


Angelika Diercks verlor ihr zweites Kind  in der 13. Woche. Auch hier: ein absolutes Wunschkind. „Ich habe mich immer wieder gefragt: Was hast du falsch gemacht? Warum durfte dieses Kind nicht leben? – Ich fand es ganz schlimm“, sagt die 38-Jährige. Die Dortmunderin und ihr Mann ließen das winzige Wesen nach der Ausschabung in Witten beerdigen, mit der großen Tochter verabschiedeten sie sich mit Luftballons und guten Wünschen von dem geliebten Baby.

Ein Jahr später war Angelika Diercks erneut schwanger. Diesmal entwickelte sich jedoch nur eine Fruchthülle – ohne Embryo. Ein erneuter Schlag ins Gesicht. „Danach war mir klar: Das war‘s. Dann kriegen wir eben kein Kind mehr.“

Liebevoll betrachtet die Dortmunderin ihren heute zweijährigen Sohn, während sie ihre Geschichte erzählt. Nimmt ihn auf den Schoß, streicht ihm zärtlich übers Haar. Die Schwangerschaft mit ihm konnte sie kaum genießen. „Gefühlt war es die Hölle“, erinnert sich die 38-Jährige. Bei jedem Arzttermin fragte sie den Mediziner bitter: „Und, lebt es noch?“

Umso größer war die Überraschung beim nächsten Kontrolltermin zehn Wochen später. „Sie sind schwanger“, gratulierte der Frauenarzt einer völlig überwältigten Angelika Diercks. „Danach war mir erst mal nur schlecht.“ Zu groß war die Angst vor einer erneuten Fehlgeburt.

Auch nach dem überstandenen ersten Drittel wurde es nur wenig besser. Vor allem im sechsten und siebten Monat stand sie Todesängste um das ungeborene Kind aus. Erst als die 30. Woche erreicht war, wurde Angelika D. langsam ruhiger. „Da wusste ich: Jetzt ist das Baby lebensfähig.“  

Was sie gar nicht leiden kann: Wenn ihr jemand sagt: Sei doch froh, dass du zwei gesunde Kinder hast. Mit der Geburt ihres Sohnes war vieles, aber nicht alles gut. Gern hätten sie und ihr Mann noch ein drittes Kind bekommen – doch auch die letzte Schwangerschaft endete mit einer Fehlgeburt. „Das ist so ungerecht“, sagt sie. Dieser Gedanke nagt an ihr. Ein Grund, warum sie erneut die Dortmunder Selbsthilfegruppe „Nur ein Hauch von Leben“ besuchen will.

Der Zwiespalt

Der wöchentliche Gesprächs- und Kontakttreff des evangelischen Kirchenkreises im Reinoldinum ist offen für Eltern, die ihr Kind durch Fehlgeburt, Totgeburt oder kurz nach der Geburt verloren haben. Er ist als Selbsthilfegruppe organisiert – die unterschiedlichsten Schicksale treffen hier aufeinander.

„Wer schon einmal ein Kind verloren hat, kann nicht mehr unbedarft mit seiner Schwangerschaft umgehen“, weiß Diplom-Sozialarbeiterin Bärbel Kompa, die die Leiterin der Gruppe fachlich begleitet. Da ist immer ein kleines Fragezeichen, das im Raum steht. Ein Dilemma, das die Paare, besonders die Frauen, umtreibt: Soll ich mich auf dieses Kind einlassen oder nicht? Es könnte ja wieder gehen. Der Zwiespalt zwischen der Freude über das neue Leben und der Trauer über die verlorenen Wunschkinder.

Diese innere Zerrissenheit der Mütter beobachtet Hebamme Ulrike Linnemann immer wieder. Deshalb versucht sie bei der Betreuung zunächst herauszufinden, wie die Frauen die Fehlgeburt verarbeitet haben. Wer noch stark unter dem Verlust leidet, mit dem gestaltet sie gemeinsam den Abschiedsprozess nach. Sie lässt die Frauen für das verlorene Kind etwas malen oder töpfern – das die Frau dann zum Beispiel symbolisch beerdigen kann.

„Man muss es aushalten können, dass man etwas Wichtiges verloren hat“, betont die 61-Jährige. Die Erkenntnis: Das verlorene Baby ist trotzdem nicht aus unserem Herzen.

Für die dreifache Mutter ist es ein Thema, das auch ihre eigene Biografie widerspiegelt. Vor dem Erstgeborenen hatte sie – mit damals 26 und mit 27 Jahren – selbst zwei Fehlgeburten. „Daher kann ich mich noch besser in die Frauen hineinversetzen.“ Eine Fehlgeburt sei eben nicht nur eine medizinische Begleiterscheinung.

Der Regenbogen

Die Schwangerschaft nach einer oder mehreren Fehlgeburten ist etwas sehr Besonderes. Das weiß auch die Amerikanerin Chasity Boatman. Sie hat eine Facebook-Seite gegründet, die sich „Every child is a blessing“ (Jedes Kind ist ein Segen) nennt. Sie bietet betroffenen Frauen ein Forum für ihre Sorgen, Ängste und Hoffnungen.

Vor einem Jahr postete sie ein Foto-Kombi zweier russischer Fotografinnen von sogenannten Regenbogen-Babys. „Ein Regenbogen-Baby ist ein Baby, das geboren wird, nachdem eine Mutter ein Kind verloren hat. Im wahren Leben folgt ein wunderschöner und strahlender Regenbogen auf ein Unwetter und gibt uns Hoffnung, dass alles besser wird“, lautet die Erklärung.

Online machte es schnell die Runde. Es zeigt sieben Frauen während ihrer Schwangerschaft, gekleidet in den Farben des Regenbogens. Auf dem zweiten Bild, nach der Geburt, sind die Mütter weiß gekleidet – und tragen ihre Regenbogen-Babys auf dem Arm. Es ist die fotografische Antwort auf die Frage: Soll man es nach einer Fehlgeburt wagen, noch einmal schwanger zu werden? Mehr als 100 000 Mal wurde das Bild geteilt. In den Kommentaren zeigten zahlreiche stolze Mütter ebenfalls Bilder ihrer eigenen Regenbogen-Babys.

Die Regenbogen-Kinder

Die Dortmunderin Anne Fischer hat ebenfalls ein solches Regenbogen-Kind. Es heißt Hannes, geboren am 25. August, genau ein Jahr nach der Fehlgeburt. In der achten Woche hatte die 31-Jährige ihr erstes Kind verloren. „Die Schwangerschaft war gar nicht geplant, aber dann haben wir uns so gefreut und gesagt, das soll so sein“, erzählt Anne Fischer.

Drei Monate nach der Fehlgeburt war die 31-Jährige schwanger. „Im ersten Moment war die Freude riesig“, erzählt sie. Doch dann habe sie sich die ersten zwölf Wochen ziemlich verrückt gemacht. „Ich war total ängstlich. Wusste gar nicht mehr, was ich machen darf und was nicht.“

Wie es der Zufall wollte, war die Freundin des Bruders zeitgleich schwanger. Die Babys hatten denselben Entbindungstermin. Hätten ihn gehabt. Denn auf das große Glück folgte die tiefe Trauer. Während die eine Schwangerschaft wie geplant fortschritt, verlor Anne Fischer ihr Baby. Trotzdem war schnell klar: Die Dortmunderin und ihr Freund wollten es wieder versuchen.


Anne Fischer erzählte nur wenigen von der erneuten Schwangerschaft. Nachdem die ersten zwölf Wochen überstanden waren, wurde es etwas besser. Anfang April, zum errechneten Entbindungstermin des ersten Kindes, habe sie noch einmal besonders intensiv an das verlorene Baby gedacht. „Aber da war ich zum Glück ja schon schwanger.“ Immerhin habe die schmerzvolle Erfahrung sie und ihren Partner als Paar zusammengeschweißt und in ihrem Kinderwunsch bestärkt.

Ihren richtigen Namen möchte die Dortmunderin nicht in der Zeitung lesen. Genauso wie alle anderen betroffenen Frauen in dieser Geschichte auch. Zu persönlich, zu emotional ist die Erfahrung. Das Thema ist immer noch ein Tabu.

„Bei vielen Frauen, die nicht über ihre Fehlgeburt sprechen, sind es Schamgefühle. Sie glauben, persönlich versagt zu haben“, sagt Hebamme Ulrike Linnemann. Andere Frauen möchten nicht darüber reden, da das Thema die Traurigkeit wieder anstößt.

Was die drei Mütter in dieser Geschichte vereint: Sie haben von ihren Erfahrungen berichtet, weil sie es wichtig finden, anderen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. „Wenn man es erzählt, kommen sie aus allen Löchern“, sagt Wiebke Pritz. Statistisch gesehen hat jede fünfte Frau bereits eine Fehlgeburt durchgemacht.

Wie viele Regenbogen-Babys es gibt – das steht in keiner Statistik.

Eine Geschichte aus der digitalen Sonntagszeitung der Ruhr Nachrichten
Ausgabe 6. November 2016

Fotos: Chasity Boatman und dpa

Text: Nicole Giese

Layout: Jennifer Kotte

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Jennifer.Kotte(at)ruhrnachrichten.de

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Ein Bauch voller Gefühle
  1. Section 1
  2. In ständiger Unsicherheit
  3. Was habe ich falsch gemacht?
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  5. Der Regenbogen
  6. Die Regenbogen-Kinder
  7. Credits und Impressum