Der Tod ist schneller als du denkst
Schockvideo in Buchstaben: Wie ein Raser zwei Menschenleben auslöscht
Dieser Text ist eine Fiktion für Raser, die das Unfallrisiko ausblenden und nicht nur das eigene Leben aufs Spiel setzen, sondern bei einem Crash auch den Tod ihrer Beifahrer und anderer Verkehrsteilnehmer verantworten müssen. Die Worte sind so gewählt, dass sie Bilder im Kopf auslösen können. Diese Bilder können abstoßend sein. Wer einen Bericht über drastische Szenen von schreienden, verletzten und sterbenden Unfallopfern nicht lesen will, sollte jetzt aussteigen. An diesem geschriebenen Schockvideo mitgewirkt haben ein Unfallchirurg, Polizeibeamte und ein Notfallseelsorger. Den Unfall hat es zum Glück nicht gegeben. Aber es könnte ihn geben. Bei jedem Rennen von Rasern, auf dem Dortmunder Wall oder anderswo.
Du heißt Jonas, bist 22 Jahre alt und fährst eine fünf Jahre alte 190-PS-Limousine, die dir ans Herz gewachsen ist. Schnelle Autos sind dein Ding. Ein kurzer Blickkontakt an der Ampel zum Nebenmann reicht. Schon geht das Rennen über den Wall los. Mit dir unterwegs sind an diesem Freitagabend die 21-jährige Sonja, die alle wegen ihrer fröhlichen Art „Sunny“ nennen. Sunnys Freund Mattes und dein bester Kumpel, der Flo, den du in der Berufsschule kennengelernt hast. Flo ist 23 Jahre alt, kann jede Party retten und ist ein prima Kerl. Etwas durchgeknallt und einer, dem man Freundschaft nicht lange erklären muss.
Wie an allen warmen Freitagabenden trifft sich die große Gang aus Dortmund, Hagen, Unna, Iserlohn, Fröndenberg, Bochum, Lünen, Ennepetal und anderen Städten ab 19 Uhr auf Phoenix-West in Dortmund-Hörde. Einer nach dem anderen trudelt ein. Die Stimmung ist wieder super. Gute Musik, das Lachen, der Alkohol. Läuft an diesem Abend. Du, Jonas, bleibst trocken – denn dir ist klar: Alkohol am Steuer, das verträgt sich nicht. Das ist deine Regel. Eigentlich wollte an diesem Abend der Flo fahren. Aber er wollte wieder einen draufmachen – und für die Fahrt zum Ostwall zu später Stunde bietest du dich gerne an.
Denn der Ostwall ist dein Revier. Besser als Phoenix-West. Auf dem Wall zeigst du, was in dir steckt. Keiner arbeitet mit Gas, Kupplung und Bremse so schnell und präzise wie du. Keiner wagt so viel. Bullen riechst du zehn Meilen gegen den Wind.
23.48 Uhr. Sunny und Mattes blicken sich verliebt vor der Hochofenkulisse an. Mehr als sonst. Die passen gut zueinander. Sunny ist auch dein Typ. Aber Mattes war schneller. Du magst sie, sie auch dich. Mehr geht nicht. Du kommst klar damit, denn Mattes (24) ist ein starker Typ.
Mattes ist Kaufmann bei einer großen Spedition und ein Technik-Tüftler. Er hat dir schon oft beim Schrauben geholfen. Du guckst beide an, da grölt Flo. Der hat schon die Lampe an, fällt aber nicht unangenehm auf. Ausgelassen ist er. Der Flo halt.
„Jonas, lass ma zum Ostwall fahren“, ruft er dir zu, „und die Verliebten nehmen wir mit. Damit die mal auf andere Gedanken kommen.“ Lautes Lachen. Gesagt. Getan. Du holst schnell noch eine Plastiktüte aus dem Kofferraum und legst sie ins Fach der Beifahrertür, falls Flo mal wieder kotzen muss. Flo sieht das, kommentiert es aber nicht und nimmt Platz. Sunny sitzt hinter dir, neben ihr Mattes. Sie halten Händchen. Im Spiegel siehst du: Sunnys Kopf liegt auf Mattes Schulter. Müde wirkt sie – und glücklich. Glücklicher als sonst an Mattes Seite.
Der Auspuff dröhnt. Auf zum Ostwall. Schnell über die Ruhrallee. Es ist jetzt 00.08 Uhr. Ihr steht bei Rotlicht vor der Ampel am Neutor. Noch einmal abbiegen, dann geht‘s Richtung Boxengasse, dem langen Parkstreifen neben den drei Wall-Spuren, die bei den Spontanrennen so gut für schnelle Wechsel geeignet sind.
Du biegst ab. Flo lässt das Beifahrerfenster runter, schnallt sich ab, lehnt sich mit dem Oberkörper heraus, reckt beide Arme in die Höhe und bildet mit Mittel- und Zeigefingern zwei Victoryzeichen. Der Jubel in der Boxengasse neben dem Ostwall ist groß. So, als hätten alle auf dich und deinen unverwechselbaren Auspuffsound gewartet. Langsam ziehen für Sunny und Mattes die Bilder von den auf Campingstühlen sitzenden und neben den Autos stehenden Szene-Mitgliedern vorbei. Warme Luft strömt ins Auto.
Es ist 00.09 Uhr. Du startest durch. Die Beschleunigung zieht Flo zurück auf den Sitz. Er schließt das Fenster. Der Tachozeiger schießt in nur zwei Augenblicken auf 110 km/h zu. Alle spüren jetzt die Lehnen im Rücken. Der Motor heult auf, das Dröhnen des Auspuffs überzieht den gesamten Ostwall. Mit festem Griff am Steuer wechselst du die Spuren. Erst in die Mitte, dann zurück nach rechts auf die Spur neben der Boxengasse. Nah ran an die Szene. Du zeigst, was du kannst.
Dann ist irgendwas anders. Der Wagen bricht aus. „Alter, was machst du?“, schreit Mattes. Wie von Geisterhand gelenkt ziehen dich die 190 PS über drei Spuren zur Mitte. Vorn ein schwerer Schlag. Dann das Krachen der Karosserie und das Stöhnen und die Schreie deiner Freunde im Auto – der Wagen schleudert zurück. Deine Hände verkrampfen am Lenkrad. Auch Sunny hinter dir schreit. Das Quietschen der Reifen ist anders als beim U-Turn, den du perfekt beherrschst. Wieder kracht die Karosserie auf einen Widerstand. Lichter ziehen an dir vorbei. Kräfte zerren an deinem Körper. Kräfte, die du so nicht kanntest.
Flo ist nicht angeschnallt. Mit voller Wucht schießt sein Schädel gegen die Windschutzscheibe. Blut tritt aus und färbt das zerborstene Glas großflächig ein. Sein Körper sackt zurück in den Sitz.
Gewaltige Kräfte reißen dein Auto, für dich unkontrollierbar, über den Asphalt. Wieder ein lauter Knall von vorn. Du spürst die Sicherheitsgurte, die dich unter Schmerzen zurückhalten. Die Front deines Autos kommt dir entgegen. Flo schlägt jetzt mit dem Oberkörper auf das Armaturenbrett. Der Aufprall verformt seinen Kopf. Über Jahre wirst du das Bild in Zeitlupe sehen. Immer wieder. Immer wieder. Das Bild brennt sich ein in dein Gedächtnis wie Reifengummi auf den Asphalt.
Flos Kopf schwillt an. Aus tiefen Schnittwunden tritt Blut heraus. Der Kiefer ist zerbrochen. Die vordere Zahnreihe ist eingeschlagen. Flos Lippen hängen schlaff hinab. Ein ekeliges Bild. Blut fließt auch aus Mund und Nase – Minuten später ist das für den Notarzt ein Hinweis auf einen Schädelbasisbruch. Deine Beine sind eingeklemmt. Du spürst hartes Material auf deiner Brust und an den Füßen, hast aber keine Schmerzen. Sunnys Schreien hört nicht auf. Dieses Schreien. Dieser schrille Ton. Diese krasse Panik. Das stört dich.
Das Lenkrad lässt du jetzt los. In kurzer Folge dann ein dumpfer Stoß hinten rechts und dann mit voller Wucht ein massives Krachen. Der dumpfe Stoß nur einen Bruchteil einer Sekunde vor dem Aufschlag entsteht, als der Kotflügel hinten rechts vor Margret schleudert. Sie ist eine Radfahrerin, die an der Ecke Ostwall / Arndtstraße auf dem Gehweg neben ihrem Fahrrad steht und auf das Grünlicht der Fußgängerampel wartet. Beim Schleudern quer über die Straße erfasst deine Karosserie die Frau. Im Unfallbericht der Polizei steht später, dass Margret 17,40 Meter weit durch die Luft geschleudert wurde und auf der anderen Seite der Arndtstraße aufschlägt.
Unnatürlich verdreht liegt ihr Körper auf dem Übergang von einem Radweg auf einen Parkplatz. Ein gebrochener Oberschenkel durchspießt die Haut. Hektisch pumpt das Herz viel Blut aus durchtrennten Gefäßen. Margret wirkt apathisch. Schmerzen spürt sie nicht, denn mit dem Bruch der Wirbelsäule ist ihr Reizleitungssystem ausgefallen.
Sie hört die Stimmen ihrer Tochter und ihres Enkelkindes, für das sie bis vor wenigen Minuten noch Babysitter war. Damit ihre Tochter mal wieder raus konnte. Jetzt, auf dem Weg zum Alten Markt über den Ostenhellweg, wollte die allein lebende Margret in der Stadt einen netten Arbeitskollegen treffen. Bilder aus dem Leben ziehen an ihr vorbei. Margret kann sich noch gut aufs Hören konzentrieren, stöhnt leise und verliert allmählich das Bewusstsein. Immer mehr Blut fließt in Kopf, Brustkorb, Bauch und Becken. Das Herz rast jetzt, mit fortschreitendem Blutverlust breitet sich Kälte aus, der Körper zittert.
Der Notarzt erkennt bei ihr eine Skalpierungsverletzung am Schädel. Blut läuft über die weiße Radweg-Markierung. Mit einer Taschenlampe erkennt der Arzt auch eine Anisokorie. Bei einer Anisokorie sind die Pupillen unterschiedlich weit geöffnet – die Folge einer starken Einblutung ins Gehirn, das ins Hinterhauptloch des Schädels gedrückt wird. Schnell tritt der Hirntod ein.
0.20 Uhr: Margret, eine liebevolle und gutmütige Mama und Oma, ist dein erstes Todesopfer, Jonas. Der Tod war schneller als du. Der Dienstgruppenleiter der Polizei informiert die Leitstelle im Präsidium über das erste Todesopfer. Die Leitstelle schaltet die Staatsanwaltschaft ein.
Dein Wagen steht. Mit voller Wucht hatte der Wagen erst Margret weggehauen und war dann gegen einen Ampelmasten geschlagen. Es ist jetzt still. Dann unterbrechen Sunnys schneller Atem und wieder Schreie die Stille: „Mattes! Mats! Mats – sag doch was, sag doch was! Mats!“
Mats redet wirres Zeug und wirkt desorientiert. Beim Aufschlag gegen die Ampel, an der Margret stand, haben die starken Bremskräfte sein Becken zerrissen und den darin liegenden Gefäßstrang verletzt. Er verliert in den nächsten Minuten viel Blut, das in seinen Körper einläuft. Mattes zittert, kalter Schweiß tritt aus. Dem wirren Gerede folgt ein bedrohlich wirkendes Stöhnen.
Nach wenigen Atemzügen sackt Mattes‘ Kopf nach vorn. Sein Kinn liegt jetzt auf dem Brustbein. Das Zittern ist eine Folge des starken Blutverlusts, durch den der Körper auskühlt. Die Normaltemperatur liegt bei 36,3 bis 37,4 Grad Celsius. Mit sinkender Körpertemperatur steigt die Sterblichkeitsrate. Der Gefahrenbereich beginnt bei 34 Grad Celsius abwärts. Das Zittern der Muskeln ist eine Abwehrreaktion des Körpers, der Wärme produzieren will.
Auf der Leitstelle der Polizei gehen in den nächsten Minuten 21 Notrufe ein.
Unfallzeugen treten ans Auto heran, klopfen gegen die Scheiben, rufen etwas. Du riechst Öl, Benzin, Kupplung und Gummi. Dampf steigt aus dem Motorraum. Zerrissen ragt die Haube nach oben. Dein Auto ist ein Wrack, das dich gefangen hält.
Hände reißen an den Türgriffen. Doch Bleche, Holme und Streben sind von allen Seiten so stark deformiert, dass die Türen fest verkeilt in der Karosserie stecken. Wortfetzen kommen bei dir an. Andere Autos stehen quer auf den drei Ostwall-Spuren. Auch sie sind stark beschädigt, aber niemand ist verletzt. Du bist bei vollem Bewusstsein, blickst in das wirre Licht der Scheinwerfer aufgestauter Autos. Dein Körper ist eingeklemmt. Kopf und Hände kannst du bewegen, drehst dich nach hinten. Mattes ist verdächtig still. Totenstill. Sunny schreit. Sie schreit und schreit.
Blaulicht und Sirenen kommen näher. Mehr und mehr. Du siehst die Uniformen der Feuerwehr und der Polizei und glaubst jetzt an das Gute. Feuerwehrmänner mit Helmen versuchen, die Türen zu öffnen. Auch sie schaffen das nicht. Ein Feuerwehrmann in roter Weste und ein Notarzt sprechen miteinander, den Blick aufs Auto gerichtet. Sie geben Funksprüche durch. Der Dienstgruppenleiter der Polizei fordert Verstärkung an.
Die sechs Spuren des Ostwalls sind jetzt gesperrt. Wer gerade noch in der Boxengasse stand, beobachtet die Szene. Rasend schnell verbreitet sich die Unfallnachricht.
Ein Feuerwehrmann klebt auf Flos Fenster eine Folie, die die Scheibe vollständig abdeckt. Er setzt einen Schussbolzen an. Ein Klack, dann zerreißt das Glas in kleine Splitter. Die Folie hält das undurchsichtige bizarre Gebilde zusammen. Der Feuerwehrmann kann die Scheibe jetzt nach außen abnehmen, ohne dass von den vielen Splittern eine Gefahr ausgeht. Ein Handy schellt im Auto. Es ist dein Handy, das irgendwo im Fußraum liegt. Laufend gehen WhatsApp-Nachrichten ein. Im Auto riecht es nach Urin.
Längst hat sich der Unfall bis zur Boxengasse rumgesprochen. Freunde schicken dir Nachrichten. „geht es dir gut? melde dich mal“, liest du später. Die Feuerwehr klemmt die Batterie im Motorraum ab. Zwei Männer stehen mit einem Löschschlauch bereit, um schnell auf einen Brand reagieren zu können, weil Benzin ausgelaufen ist. Du hörst Kommandos, Stimmengewirr, Sunnys Schreie und immer noch dein Handy.
Das geöffnete Fenster auf der Beifahrerseite ist eine Notöffnung für den ersten schnellen Zugriff durch den Rettungsdienst. In den ersten Sekunden muss der Notarzt entscheiden und Prioritäten setzen: Wen holen sie zuerst raus? Wen zuletzt? Dir, Flo, Mattes und Sunny hängt er Karten um. Rot ist die Kategorie 1 für lebensgefährlich Verletzte. Mattes und Flo erhalten die 1. Du und die schreiende Sunny, ihr bekommt die grüne Karte. „Wer schreit, hat Zeit“, heißt es beim Rettungsdienst. Sunnys Schreien stresst auch die Retter. Ein Feuerwehrmann versucht sie zu beruhigen. Doch gegen das Chemiewerk im Körper kommt er nicht an. Deine Körperzellen schütten Adrenalin und andere Stoffe aus. Der ärztliche Leiter des Dortmunder Rettungsdienstes, Dr. Hans Lemke, spricht von einem „Körperbeben – die Substanzen vergiften den Körper regelrecht“. Das Gehirn schreit nach Flucht, aber die Muskeln sind eingeklemmt. Der Körper läuft im Ausnahmemodus, weil er sich nicht abreagieren kann.
Der Notarzt und der Einsatzleiter entscheiden sich nicht für die schonende Rettung, bei der die eingeklemmten Insassen behutsam mit hydraulisch betriebenen Scheren und Spreizern aus dem Unfallwrack herausgeschnitten werden, sondern für die „schnelle Rettung“. Schnell heißt: Die knipsen nicht einfach in wenigen Sekunden das Dach ab. Schnell heißt: Bis Spreizer und Scheren die Karosserie zerlegt haben und die Schwerverletzten befreit werden können, vergehen mindestens 20 Minuten. Die Retter müssen dabei in Kauf nehmen, dass beim Auftrennen des Autos Glas- und Metallsplitter die Insassen verletzen können. Du hörst wieder Funksprüche und siehst eine orangefarbene Plastikplane, die der Bergungszug der Feuerwehr auf dem Asphalt ausbreitet und schwere Geräte ordentlich darauf ablegt.
Schaulustige filmen und fotografieren die Unfallszene. Erste Fotos erscheinen bei Facebook und Instagram. Polizisten versuchen, die Gaffer abzudrängen. Foto- und Filmkameras von Journalisten sind auf die Unfallstelle gerichtet. Gaffer stehen herum. Rettungsdienstler geben ihnen kleinere Aufgaben, damit sie nicht unnütz herumstehen. Andere entfernen sich, als sie merken, dass sie eingespannt werden. In einem gleichmäßigen Rhythmus durchdringt das Dröhnen der schweren Dieselmotoren der Feuerwehrfahrzeuge die Atmosphäre. Eine andere Akustik als das Klangdesign aus deinem Auspuff, der abgerissen auf dem Mittelstreifen liegt.
Jetzt sind alle vier Fenster geöffnet. Ein Notarzt und Sanitäter legen mehrere Zugänge zu Flos und Mattes‘ Körper. Vollelektrolytlösungen strömen als flüssiges Leben in 500-Milliliter-Portionen in deren Kreislauf, damit die Herzen wieder pumpen. Sunny ist stiller geworden. Sie weint und schluchzt. Ein Feuerwehrmann spricht beruhigend auf sie ein. Sein Helm und die Uniform lassen ihn unpersönlich wirken, aber er redet liebevoll mit ihr. Ihre optischen und akustischen Eindrücke kann er nicht wegsprechen. In wenigen Minuten zieht die Feuerwehr die erschöpfte Sunny als Erste aus dem Auto. Das Blut in ihrem Gesicht stammt von Mattes.
Die Feuerwehr setzt dir einen Helm auf, um dich vor Splittern zu schützen. Eine gewaltige Schere aus Stahl zermalmt, wenige Zentimeter vor deiner Stirn, den Türholm kurz unter dem Dachansatz. Das Ächzen der Karosserie wirkt bedrohlich. Die Enden der Scheren kommen dir gefährlich nahe. Von allen Seiten dringen die zerstörerischen Geräusche der aufgetrennten Karosserie in deinen Kopf. Dein Handy schellt. Die Dieselmotoren der Feuerwehr dringen stärker in das mit aller Gewalt geöffnete Auto vor. Die Gerüche sind intensiver.
In der Unfallklinik in der Nordstadt schellt jetzt das „rote Telefon“. Mit dieser Rufnummer alarmiert die Leitstelle der Feuerwehr die Notfallteams für die Schockräume in der Unfallklinik.
Auf engem Raum ziehen viele nicht zuzuordnende Hände den nicht mehr reagierenden Flo aus dem aufgeschnittenen PKW. Kommandos übertönen das Dieseldröhnen der Feuerwehrmotoren. Durch die transparenten Schläuche fließen weiter Flüssigkeiten in Flos Körper.
Du starrst in das deformierte, aufgedunsene Gesicht mit dem zugeschwollenen Auge, nur eine Armlänge neben dir. Ein Bild wie in einem vor Blut triefenden Schockvideo, das du immer locker wegstecken konntest. Jetzt ist das echt. Ekelig echt. Flo ist schon mal raus. Dann fährt der Rettungswagen ab.
Hinten rechts presst ein Team mit aller Kraft Mattes zerbrochenes Becken zusammen und stabilisiert den Bruch mit einem Spezialgurt. „Die Kompression gewährleistet einen geringeren Blutverlust. Damit können wir die Sterblichkeitsrate von 28 Prozent auf 8 Prozent reduzieren“, erläutert der Unfallchirurg Dr. Hans Lemke diesen Schritt. Flo ist, unansehnlich im Rettungswagen liegend, weiter „reanimationspflichtig“. Ärzte und Rettungsassistenten kämpfen während der Blaulicht-Fahrt durch die Nordstadt gegen die Zeit um sein Leben. Immer wieder stehen Autos im Weg, weil sie unbeholfen auf Blaulicht und Martinshorn reagieren.
Innerhalb von 60 Sekunden nach dem Anruf beim roten Telefon stehen in den Schockräumen 1 und 2 direkt neben der Krankenwagenzufahrt die aus jeweils 15 Spezialisten bestehenden Notfallteams für die Ankunft lebensgefährlich verletzter Patienten bereit. Jeder auf dem ihm zugewiesenen Platz, an den der Patient herangefahren wird. Anästhesisten, Unfall- und Neurochirurgen, ein Mund-Kiefer-Gesichtschirurg, ein Radiologe und Pfleger warten auf Flo, dessen Leben auf der Kippe steht.
Komplett entkleidet kommt dein Freund im Schockraum 1 der Unfallklinik an. Der Rettungswagen mit Mattes erreicht die Notfallaufnahme zehn Minuten später. Beiden entnimmt man sofort eine Blutprobe, damit die Blutbank in der 3,4 Kilometer entfernten Alexanderstraße die richtigen Blutkonserven liefern kann. Das dauert mindestens 25 Minuten.
Im Schockraum halten sie Flo. Flo lebt. Blut, Leber, Milz, eine Niere, die Blase, der Kopf – trotz schwerer innerer Verletzungen entscheidet sich der Tod gegen ihn. Das Nasenbein ist gebrochen, ein schweres Mittelgesichtstrauma mit tiefen Schnittwunden entstellen deinen Freund für ein Leben lang. Die Lunge ist kollabiert. Einblutungen im Gehirn verursachen Sprachstörungen und Gedächtnisdefizite, die später in der Rehabilitation nicht zu beheben sind.
Der sonst vor Lebensfreude überschäumende Flo ist für immer ein schwerer Pflegefall. In einem Jahr wird er in Hörde in ein Pflegeheim für Menschen mit Hirnschäden einziehen. Mehrmals täglich werden Pfleger den Speichel von seinem Kinn wischen. Flos Eltern werden sich später fragen, ob ein schneller Tod nicht besser gewesen wäre. Sie werden dich mehrmals bitten, ihn doch zu besuchen. Du wirst das nicht schaffen.
Ralf Lenfert schläft bereits. Vor zwei Stunden hatte seine Frau zu ihm noch gesagt „Ist aber ruhig diese Woche“. Jetzt, um 0.23 Uhr, schellt sein Bereitschaftshandy. Der 1. Polizeihauptkommissar leitet die Verkehrsinspektion 1 der Polizei und übermittelt mit vier weiteren Kollegen den Angehörigen von verstorbenen Unfallopfern die Todesnachricht. Auf dem Weg zum Ostwall telefoniert er mit seiner Leitstelle und erfährt, dass die um 0.20 Uhr verstorbene Margret in der Kronprinzenstraße wohnt.
Auf dem Weg zum Ostwall ruft er einen seiner Kollegen, Frank Wolff, dazu. Ralf Lenfert spürt, dass diese Nacht schwierig wird. Polizeihauptkommissar Frank Wolff erhält den Auftrag, Margrets Angehörigen die Todesnachricht zu übermitteln. Mehrere Notfallseelsorger arbeiten an der Unfallstelle, um geschockten Zeugen und Ersthelfern zur Seite zu stehen. Unter ihnen ist auch Pfarrer Hendrik Münz aus Hörde. Er koordiniert den Einsatz der Notfallseelsorger.
Um 1.40 Uhr steht Frank Wolff mit der ehrenamtlichen Notfallseelsorgerin Britta und einem Streifenteam vor dem Mehrfamilienhaus in der Kronprinzenstraße und schellt an der Klingel mit Margrets Nachnamen an. Niemand öffnet. Unten im Erdgeschoss ist noch Licht. „Ja bitte?“, tönt es aus der Gegensprechanlage. „Hier ist die Polizei. Ich möchte mit Ihnen etwas besprechen. Bitte öffnen Sie die Tür.“ Im Flur geht Licht an. Ein Mann um die 60 schließt auf und teilt auf Nachfrage mit, dass Margret allein in der Wohnung lebt, aber Margrets Tochter Lena zwei Häuser weiter wohnt. „Was ist denn?“ – „Das können wir Ihnen nicht sagen. Wir ermitteln noch. Vielen Dank. Sie haben uns sehr geholfen.“
„Wer ist da?“, fragt zwei Eingänge weiter eine Männerstimme durch die Gegensprechanlage. „Hier ist die Polizei“, antwortet Frank Wolff, „wir müssen etwas Wichtiges besprechen. Dazu müssen Sie uns reinlassen.“ Wieder geht Licht im Flur an, Schritte kommen näher. „Sind Sie der Ehemann von Lena?“ Wolff will wissen, wer sonst noch in der Wohnung ist. Auf dem Weg in die dritte Etage herrscht Schweigen. Bei Lenas Mann baut sich eine düstere Vorahnung auf. Oben in der Tür steht Lena. Panik macht sich breit. Frank Wolff und die Notfallseelsorgerin stellen sich kurz vor. Lena überhäuft sie hektisch mit Fragen. Der Polizist bittet darum, sofort gemeinsam Platz zu nehmen.
Dann sofort dieser Satz: „Ihre Mutter Margret ist tot. Sie ist bei einem Verkehrsunfall tödlich verletzt worden.“
„Das kann nicht sein. Wir haben gerade noch geschrieben“, erwidert Lena und zeigt mit zitternden Händen auf die um 23.58 Uhr empfangene WhatsApp-Nachricht: „Süße! Fahre jetzt in die Stadt. Bringe dir morgen Emmas Schnuller vorbei. HDL, Mami.“ HDL steht für „Hab Dich Lieb“.
„Ja, um 23.58 Uhr war das so“, sagt Frank Wolff, „gestorben ist Ihre Mutter um 0.20 Uhr.“ Lena will wissen, ob ihre Mama gelitten und noch etwas gesagt hat. Dann weint und weint sie. Die Tochter Emma wird wach. Sven, ihr Mann, ruft gute Freunde an.
Mattes ist tot. Die Polytrauma-Teams in den Schockräumen der Unfallklinik gehören zwar zu den schnellsten und besten Notfallteams in Deutschland, denn sie können Schwerstverletzte innerhalb von 20 Minuten stabilisieren und mit guten Überlebens-Chancen in den OP oder auf die Intensivstation überführen. Andere Kliniken brauchen 70 bis 80 Minuten. Aber die enormen Kräfte beim Seitenaufprall auf den Ampelmasten haben das Becken und das darin liegende Venengeflecht, den Venenplexus, regelrecht zerfetzt.
Das Notfallteam hat den Kampf gegen den Volumenmangelschock verloren. Mattes stirbt an den Folgen des hohen Blutverlusts, obwohl die für ihn angeforderten Blutkonserven schnell eingetroffen sind. „Er ist nach innen ausgeblutet“, sagt Dr. Lemke. Herz-Kreislauf-Stillstand. Das Hirn schaltet ab. Die Organe stehen still. Das Notfallteam trifft die Entscheidung, die Reanimation einzustellen. Immer gemeinsam. Der Tod war schneller. Schneller als ein ganzes Team.
Begleitet von der Polizei, führt der Rettungsdienst jetzt auch dich in die Unfallklinik. Auf dem Weg zur Notfallaufnahme gehst du langsam an den beiden Schockräumen vorbei. Eine der breiten Schiebetüren ist geöffnet und gibt im Vorbeigehen den Blick in den Raum 2 frei. Wie in Zeitlupe erinnerst du dich später an das auf dem Boden liegende aufgerissene Verpackungsmaterial von Thoraxdränagen und Kathetern. Verschmiertes Blut unter den Schuhen.
In dem fensterlosen Raum, in dem Mattes nackt und tot auf dem Tisch liegt, ist es still. Neben ihm ruht das Beatmungsgerät. Kabel kleben auf seinem Körper. Ärzte und Pfleger blicken schweigend auf den entblößten Toten. „Kein Puls“, steht auf einem Monitor, der auch die „Null-Linie“ für den Herzstillstand zeigt.
Dr. Lemke beschreibt die Stille im Schockraum 2 so: „Wenn alle aufhören, ist das eine bedrückende Gesamtsituation. Das ist irgendwie eine laute Stille. Diese Stille nach so vielen Versuchen, das Leben zu retten, ist Ausdruck von der Frustration darüber, dass jeder einzelne im Team den Kampf gegen den Tod verloren hat. Jeder geht in sich und fragt: Haben wir alles, wirklich alles, richtig gemacht?“ Dann beschlagnahmt die Staatsanwaltschaft Mattes‘ Leichnam. Für die Obduktion in der Gerichtsmedizin.
Nach 60 Minuten kannst du die Unfallklinik wieder verlassen.
Zwischendurch denkst du an Sunny, die zuletzt nicht mehr geschrien hat. Du denkst zurück an deinen Blick in den Rückspiegel, als ihr Kopf mit verträumtem Blick auf Mattes Schulter lag. Du denkst zurück an diesen Moment auf Phoenix-West, als sie und Mattes so verliebt waren. Was du noch nicht weißt: Sunny ist schwanger. In sechs Monaten ist sie Mama einer Tochter.
Ihr Studium hat sie dann abgebrochen. Der Unfall vom Ostwall belastet ihre Seele schwer. Das Baby verändert ihr Leben. Es lenkt sie ab von dem totalen Stress. Sie will dich nie wieder sehen. Den an dich geschriebenen Brief mit all ihren Gefühlen hat sie nie abgeschickt. Sie vermisst ihren Mattes so sehr. Er spielte Gitarre nur für sie. Konnte so gut kochen, sogar ohne Rezept. Hatte prima Eltern, anders als Sunny, bei der es zu Hause nicht so super gelaufen ist. Mattes gab ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Er respektierte sie. Am Abend, auf dem Weg nach Phoenix-West, haben sie besprochen, dass sie ihr Studium unterbricht, dass sie in eine gemeinsame Wohnung einziehen und dass Sunny erst wieder studiert, wenn das Kind einen Kitaplatz hat.
Es ist jetzt 2.01 Uhr. Ralf Lenfert, Notfallseelsorger Hendrik Münz und eine ebenfalls für Notsituationen ausgebildete Pfarrerin fahren zu einer Doppelhaushälfte in Löttringhausen, wo Mattes‘ Eltern und seine 14-jährige Schwester leben. Zehn Minuten dauert das Gespräch zwischen dem erfahrenen 1. Polizeihauptkommissar und dem evangelischen Pfarrer, dann schreiten sie, vorbei an einer Müllbox und einem Blumenbeet, gemeinsam auf die Eingangstür zu. Ein Bewegungsmelder springt an. „Jetzt tief durchatmen und dann auf die Klingel“, denkt der 56-jährige Ralf Lenfert. Licht geht an, erst in der ersten Etage, dann unten.
Ein Mann im Bademantel öffnet die Tür. „Sind Sie der Vater von Mattes?“ Ein kurzes „Ja“ mit gedämpfter Stimme, dann kommt Mattes‘ Mutter die Treppe hinunter. Die Übermittlung der Todesnachricht überfordert die Familie. Mattes‘ Vater reagiert zunächst aggressiv. Mattes‘ Mutter bricht zusammen. Der Lärm weckt die 14-jährige Schwester. Die Pfarrerin fängt das Mädchen auf der Treppe ab. Der Einsatz der Notfallseelsorger dauert die ganze Nacht. Am Morgen erreichen Angehörige die inzwischen mit Medikamenten ruhig gestellte Familie.
Für Margret und Mattes ist das Leben zu Ende.
Für dich geht es weiter.
In welchem Tempo, entscheidest du selbst.
Text, Fotos, Videos:
Peter Bandermann
Details:
Dr. Hans Lemke (Unfallchirurg und Ärztlicher Leiter Rettungsdienst Dortmund), Gunnar Wortmann, Ralf Lenfert, Frank Wolff (Polizei Dortmund/Lünen), Hendrik Münz (Pfarrer und Leiter Notfallseelsorge Dortmund).
Kontakt: peter.bandermann@ruhrnachrichten.de
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Keine Bereitschaft zur Teilnahme an Streitbeilegungsverfahren
Der Unternehmer ist grundsätzlich nicht bereit und verpflichtet, an Streitbeilegungsverfahren vor Verbraucherschlichtungsstellen im Sinne von § 36 Abs. 1 Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) teilzunehmen. Davon unberührt ist die Möglichkeit der Streitbeilegung durch eine Verbraucherschlichtungsstelle im Rahmen einer konkreten Streitigkeit bei Zustimmung beider Vertragsparteien (§ 37 VSBG).