Leben mit geistiger Behinderung

Von Marie Rademacher und Felix Püschner

Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sollte im Prinzip für alle Menschen in gleichem Maße möglich sein. Bei einigen gestaltet sie sich allerdings schwieriger als bei anderen... Was den meisten Menschen wohl grundsätzlich leicht fällt oder für sie eine Selbstverständlichkeit darstellt, kann für Menschen mit einer geistigen Behinderung durchaus eine große Herausforderung sein - trotz aller gesetzlichen Regelungen und Hilfsangebote.

Unsere Reportage gibt Einblicke in das Leben dieser Menschen - von der Geschichte der kleinen Paula mit Down-Syndrom über Nicks Alltag in der Förderschule und Marcels glückliches Dasein als Hufschmied bis hin zu den bewegenden Erlebnissen im Leben von Inge und ihren Eltern.

Die Geschichten unserer Akteure sind keine Geschichten der Ungerechtigkeit. Sie dienen zwar als Anlass, bestehende Strukturen und Klischees infrage zu stellen und erzählen das Schicksal von Menschen mit geistiger Behinderung - aber sie zeigen letztlich vor allem, wie positiv diese Menschen mit ihrer Behinderung umgehen und wie sie Chancen nutzen, um am “normalen” gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Selbst, wenn dies nicht immer einfach ist.

Paula ist anders

Geboren werden mit geistiger Behinderung

Paula schaut aufmerksam. Neugierig. Dann lächelt sie, sieht so süß aus mit den roten Wangen und dem kleinen Zöpfchen, mit dem ihre dunklen Haare aus dem Gesicht gebunden sind. Paula ist ein kleiner Sonnenschein, sagt ihre Mutter. Noch kein Jahr ist es her, da wurde sie in die Familie Weisheit aus Selm-Bork hineingeboren. Sie ist anders als ihre beiden Geschwister, anders als die meisten Kinder im Ort. Paula hat das Down-Syndrom.

Kathi Weisheit hebt ihre Tochter aus dem Laufstall, der im Wohnzimmer der fünfköpfigen Familie steht, schenkt ihr einen dieser zärtlich prüfenden Blicke, die so typisch sind für Mütter von kleinen Babys. Noch gut, so erzählt sie dann, kann sie sich an ihre erste „Begegnung“ mit Paula erinnern. „Nach der Geburt lag sie auf meinem Bauch. Mein Mann und ich haben sofort gesagt: Sie sieht anders aus als die anderen beiden… Wir wussten eigentlich sofort, dass sie nicht so ganz normal ist“, sagt sie.

Erste Anzeichen dafür, dass Paula mit einer Behinderung auf die Welt kommen könnte, gab es schon vor ihrer Geburt. In der zwölften Schwangerschaftswoche wurde eine verdickte Nackenfalte festgestellt – ein Indiz dafür, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Trotzdem entscheiden sich die Weisheits gegen andere Untersuchungen für eine genauere pränatale Diagnose. „Für uns stand eigentlich gar nicht im Raum, dass wir eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen. Ich hatte zu viel Angst davor, dass dabei etwas passiert“, erzählt Kathi Weisheit. In Deutschland ist es so, dass jeder schwangeren Frau, die älter als 35 Jahre ist, angeboten wird, vor der Geburt eine Untersuchung des Fruchtwassers machen zu lassen, bei der festgestellt werden kann, ob das Kind das Down-Syndrom hat.

Laut dem Deutschen Down-Syndrom-Infocenter machen immer mehr Frauen von diesem Angebot Gebrauch. Und: „Wenn bei dieser Untersuchung die Diagnose Down-Syndrom lautet, wird in den meisten Fällen die Schwangerschaft abgebrochen“, heißt es in einem Aufsatz in der Zeitschrift, die dieses Center herausgibt und die auch bei der Familie Weisheit im Regal steht. ­Nach Informationen des Centers kommen in Deutschland jährlich rund 1000 Kinder mit Down-Syndrom auf die Welt – die Zahl ist seit vielen Jahren ungefähr gleich, daran hat auch die Pränataldiagnostik nichts geändert. „Die Erklärung ist darin zu sehen, dass die meisten Babys von Frauen zwischen 27 und 34 geboren werden. Logischerweise werden von diesen Müttern dann auch die meisten Babys mit Down-Syndrom auf die Welt gebracht“, heißt es in dem Aufsatz weiter.

Das Thema der pränatalen Diagnostik und die Konsequenzen, die oft daraus gezogen werden, ist eines, das auch mit vielen ethischen Problemen oder zumindest Überlegungen behaftet ist. „Irgendwie will man nur noch perfekte Kinder haben“, sagt Kathi Weisheit. „Paula…“, beginnt sie und überlegt dann kurz. „Paula ist eben besonders“, sagt sie und da ist er wieder, dieser zärtliche Blick, den sie ihrem dritten Kind, das es sich jetzt auf ihrem Schoß und in ihren Armen bequem gemacht hat, zuwirft. Dennoch: Am Anfang war es nicht einfach, auch daraus macht die junge Mutter keinen Hehl. Nach der Geburt dauert es, bis die eindeutige Diagnose da ist, bis klar ist, warum Paula nicht so aussieht, wie andere Kinder. Die Schwestern auf der Station halten sich bedeckt – dürfen natürlich ohne die entsprechenden Untersuchungsergebnisse keine Einschätzung abgeben. Erst zwei Tage nach Paulas Geburt ist die nächste U-Untersuchung beim Arzt. „Da habe ich dann auch angesprochen, dass wir die Vermutung haben, dass Paula Trisomie hat und dass wir eine Chromosomen-Untersuchung machen lassen wollen“, erzählt Kathi Weisheit im Rückblick.

„Und dann mussten wir wirklich eine Woche auf das Ergebnis warten. Als es dann da war, waren wir erst mal erleichtert. Natürlich wäre es schön gewesen, wenn Paula ganz gesund gewesen wäre. Aber wir wussten es ja irgendwie im Herzen schon und es tat gut, dann endlich einen Namen dafür zu haben und zu wissen, womit wir es zu tun haben. Das war ein Freitag“, sagt sie weiter. Am Samstag bricht der Schock sich die Bahn. „Man macht sich solche Sorgen“, beschreibt Kathi Weisheit das Gefühl, das sie immer dringender beschlich. „Erst mal musst du es verdauen, man wünscht sich ja halt ein normales Baby. Und dann kommt die große Trauerwolke und man denkt, man wird nie wieder glücklich. Das ist ein ganz doofes Gefühl. Man muss lernen, damit umzugehen. Sich nicht so viele Sorgen machen. Wir müssen im Hier und Jetzt leben. Es nützt mir nichts, wenn ich mir Sorgen mache, wie es Paula in drei Jahren geht… Aber das muss man halt alles erst mal lernen.“

Nach zwei Wochen hat Kathi Weisheit keine Tränen mehr, die Farbe kommt zurück in ihre Wangen – und der Mut für die Zukunft. Von Trauer oder Bedauern ist in Paulas Zuhause jetzt nichts mehr zu spüren, Mitleid brauchen die Weisheits nicht. „Ich glaube, es ist ganz wichtig – egal ob du jetzt ein behindertes oder ein nicht behindertes Kind hast –, dass du es annimmst und in die Familie integrierst. Dass es geliebt wird. Und dass es das Gefühl hat: Ja, hier bin ich zu Hause“, sagt Kathi Weisheit und lächelt.

Eine „große Stütze“, wie sie sagt, sind auch die Angebote der Frühförderstelle Lünen – und zwar sowohl für die Entwicklung von Paula als auch für die ihrer Eltern.

Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren (also bis zur Schulpflicht) haben im Kreis Unna Anspruch auf Frühförderung, wenn ihre Entwicklung verzögert ist, wenn sie verhaltensauffällig sind oder wenn sie eine Behinderung haben oder von einer solchen bedroht sind, wie Ruth Lammers von der Frühförderstelle Unna erläutert. „Je früher eine Entwicklungsförderung erfolgt, desto besser“, sagt sie und begründet das mit der Gehirnentwicklung von Kindern, die sich vorrangig bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr vollzieht. Wie genau so eine Förderung aussehen kann? Wie so oft, so sagt es Ruth Lammers, ist das ganz unterschiedlich. Gerade bei Kindern mit Trisomie 21. „Down-Syndrom ist nicht gleich Down-Syndrom“, sagt sie. Auch für Eltern sei das Angebot oft hilfreich. Warum? Ruth Lammers zählt auf, was die Frühförderstelle für Eltern leistet: „Begleitend und beratend tätig sein auf dem Weg der Annahme von Behinderung, Loslassen von Wunschvorstellungen, Betrauern, Bündelung von Energien zur Neuorientierung und Stabilisierung des Familiensystems, Aufzeigen von weiteren Hilfs- und Entlastungsmöglichkeiten.“

Laut Kathi Weisheit sind es gerade die offenen Ohren und die feinen Antennen ihrer Betreuerin von der Frühförderstelle in Lünen, von denen die ganze Familie profitiert. „Es ist immer schön, mit den Verwandten, mit meiner Mama oder mit meinem Mann darüber zu sprechen. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn jemand außerhalb der Familie dazukommt. Das ist goldwert“, beschreibt sie. Paula hat seit ihrer Geburt schon viele Fortschritte gemacht – und jeden hat die Familie gefeiert. „Bei Paula freuen wir uns über jeden kleinen Schritt, weil man da halt nicht unbedingt mit rechnen kann. Als sie sich umdrehen konnte“, sagt Kathi Weisheit und lacht kurz auf bei der Erinnerung, „da haben meine andere Tochter und ich hier unten geschrien und geklatscht, so groß war die Freude.“

Das Leben der Familie hat sich verändert seit der Geburt von Paula – auch das von Kathi Weisheit. Die gelernte Goldschmiedin hat erst mal nicht vor, wieder arbeiten zu gehen. „Ich möchte mich in meinem Beruf nicht selber verwirklichen und ich bin so mit mir im Reinen, dass es in Ordnung ist, wenn ich mich jetzt intensiv um die Familie kümmere“, erzählt sie. „Es soll jetzt alles so sein und ich glaube, Paula wurde mir irgendwie auch geschickt. Ich glaube, dass ich an dieser Aufgabe wachsen kann und versuche immer, das Positive zu sehen“, sagt sie weiter.

Klar mache sie sich Sorgen – gerade dann, wenn die ersten Hürden kommen. In welchen Kindergarten wird Paula gehen, in welche Schule? Wird sie außerhalb der Familie auch so viel Zuneigung und guten Willen erfahren, wird sie eigenständig wohnen können, arbeiten, eine Aufgabe finden? Was passiert, wenn ihre Eltern nicht mehr da sind? „Das sind diese Sorgen von morgen“, sagt Kathi Weisheit bestimmt. „Warum soll ich mir jetzt Gedanken darum machen? Es kommt sowieso anders als man denkt.“

Aber träumen kann man ja. Und so wünscht sich Kathi Weisheit für Paula:  „Ich hoffe, dass Paula eigenständig leben kann. Für Trisomie-Menschen ist es aber auch ganz wichtig, dass sie Geborgenheit und jemanden an der Seite haben, der sie durch das ganze Leben führt. Eine gewisse Balance aus beiden Sachen – das wünsche ich mir für Paula. Dass sie immer gut aufgehoben ist, aber dass sie sich auch gut entfalten und entwickeln kann. Und dass sie machen kann, was sie machen möchte. Dass sie eine Aufgabe findet, die sie erfüllt. Dass sie einfach glücklich wird.“

Alles eine Stufe zu hoch?

Lernen mit geistiger Behinderung

Nick sitzt an seinem Tisch und schreibt kleine Buchstaben in sein Arbeitsheft. Neben das große „L” kommt ein kleines – in Schreibschrift. Dann malt er den auf dem Papier abgedruckten dazugehörigen LKW aus. Und schon geht es weiter mit dem „M”, dem „N”... Eine Aufgabe, die für gleichaltrige Regelschüler der Sekundarstufe eher ungewöhnlich wäre.

Nick ist 13 Jahre alt und hat – genauso wie die anderen 65 Schüler der Haldenwangschule in Dorsten – „Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung”. So liest es sich zumindest in der Amtssprache. Schulleiter Ulrich Domhöver erklärt das weniger verklausuliert: „Wir haben hier Schüler mit einer geistigen Behinderung”, sagt er. „Schüler, die in ihrem Leben besondere Unterstützung brauchen.” Und das erfordere besondere Lernbedingungen und Betreuungsangebote.

Fördern für ein selbstbestimmtes Leben

Die besonderen Bedingungen gibt es in der Haldenwangschule: 18 Lehrer sowie zusätzliche Integrationskräfte für 66 Schüler und Klassengrößen von zehn bis elf Kindern und Jugendlichen – Zahlen, von denen eine allgemeine Schule nur träumen kann. Aber der Lehrauftrag ist hier eben ein etwas anderer. Die sonderpädagogische Förderung soll den Schülern helfen, ein selbstbestimmtes Leben in sozialer Integration führen zu können. Unterstützung auf dem Weg zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung – ein Weg, der Schülern mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung in der Regel erschwert ist.

Die Dorstener Haldenwangschule im Video-Portrait:

Ziele lassen sich nur schwer festlegen

Manche Kinder und Jugendliche an der Dorstener Förderschule lernen zunächst ganz elementare Dinge, die für den Alltag unerlässlich und für die meisten Menschen selbstverständlich sind: „Das fängt bei einigen mit dem Schnürsenkelbinden an“, sagt Domhöver. Natürlich stehen auch an der Dorstener Förderschule Mathe, Deutsch und Englisch auf dem Stundenplan. Klassenarbeiten oder Zeugnisse mit Schulnoten gibt es hier aber nicht. Genauso wenig wie einen detaillierten, einheitlichen Lehrplan: „Das würde nichts bringen. Unsere Schüler lernen so unterschiedlich schnell und haben so unterschiedliche Stärken und Schwächen. Bei vielen lassen sich die Ziele für ein Schuljahr auch gar nicht so konkret festlegen.“

Das klingt mindestens verhalten, ist aber die Realität. Ein Beispiel: Ein Kind kann zu Beginn eines Schuljahres bis zwei zählen. Wie weit mag es wohl am Ende des Schuljahres sein? Vielleicht bis fünfzehn? Da winkt Domhöver ab. Eine Sensation wäre das. Bei manchen Schülern könne er noch nicht einmal versprechen, dass sie es bis zum Ende des Schuljahres bis zur drei schaffen – und auch nicht, dass sie in der zweiten Woche des Schuljahres überhaupt noch wissen, was „zwei“ eigentlich bedeutet. Es sei bei vielen Schülern ein ständiges Auf und Ab. Andere hingegen machen durchaus kontinuierlich Fortschritte.

Manchmal kommt es sogar vor, dass ein Schüler den Sprung auf eine allgemeine Schule schafft. Das sind laut Domhöver allerdings „absolute Ausnahmefälle“. Da sei es schon wahrscheinlicher, dass ein Schüler die nächste „Stufe“ erreicht – einen Wechsel des Förderschwerpunkts von der Geistigen Entwicklung zum Schwerpunkt Lernen. Meist führe der Weg dann aber eher an eine andere Förderschule als in den inklusiven Unterricht einer allgemeinen Schule. Dennoch: „Wir haben durchaus einige Fälle, die sich bei uns gut entwickeln. Dann machen wir zunächst einen Probeunterricht – geht das gut, können wir einen Wechsel des Förderortes initiieren.“ Bei den meisten Kindern und Jugendlichen gelingt das nicht.

Bei der Inklusion stehen geistig behinderte Schüler ganz unten

Wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein geistig behinderter Schüler den Übergang zu einer allgemeinen Schule schafft, macht der Bericht zur sonderpädagogischen Förderung des Ministeriums für Schule und Weiterbildung NRW deutlich: Im Schuljahr 2015/16 hatten 133.581 Schüler in NRW einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Bei 20.551 von ihnen lag dieser im Bereich der Geistigen Entwicklung (GG). Lediglich 2.142 dieser Schüler besuchten eine allgemeine Schule. Das entspricht einem Integrationsanteil von 10,4 Prozent und ist – wenn man die Entwicklung der vergangenen fünf Jahre betrachtet – zwar durchaus positiv, aber im Vergleich zum Integrationsanteil aller Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (38,4 Prozent) doch ziemlich bescheiden.

„Im Vergleich zu anderen Förderschwerpunkten sind die Zahlen für die Gruppe der GG-Schüler eher moderat. Vor allem im Sekundarbereich”, sagt Rainer Vohwinkel von der Professional School of Education an der Ruhr-Universität Bochum. Dies sei aber nicht überraschend, sondern spiegele letztlich nur die Komplexität des Förderbedarfs von geistig behinderten Schülern wider. Was in der Primarstufe noch funktioniere, sei spätestens mit dem Übergang in die Sekundarstufe nur noch sehr schwer möglich – angefangen bei den Rahmenbedingungen bis hin zu den konzeptionellen und inhaltlichen Aspekten. “Im Primarbereich können die Bedürfnisse der GG-Schüler noch viel besser bedient werden. Die Kinder lernen Rechnen, indem sie Gegenstände bündeln, und Schreiben, indem sie Buchstabe für Buchstabe üben. Da können GG-Schüler häufig noch gut mitmachen. Insgesamt sind das Unterstützungssystem und die Rahmenbedingungen an allgemeinen Schulen aber nicht so ausgebaut, wie es für diesen Förderschwerpunkt eigentlich notwendig ist”, erklärt Vohwinkel.

Mehr Lehrkräfte und Integrationshelfer, die passenden Lehr- und Lernmaterialen, eine Ganztagsbetreuung, die nicht nur lebenspraktische Übungen, sondern häufig zudem heilpädagogische und medizinische Kenntnisse mitbringen muss – all das könnten viele allgemeine Schulen einfach nicht stemmen. An den weiterführenden Schulen seien die Bedingungen meist sogar noch schlechter. Selbst wenn die Integrationsquote von 28,9 Prozent in der Sekundarstufe 2 anderes vermuten lässt. Denn Fakt ist auch, dass im vergangenen Schuljahr in ganz NRW lediglich 173 Schüler mit einer geistigen Behinderung überhaupt diese Stufe besuchten – 50 von ihnen an einer allgemeinen Schule.

Eltern haben die Qual der Wahl

Die Schüler der Haldenwangschule haben kein Problem damit, nicht zu einer „normalen“ Schule zu gehen. Häufig sind es eher die Eltern geistig behinderter Kinder, die sich mit der Situation schwer tun. “Die Eltern unserer Schüler wissen unsere Schule zu schätzen. Sie sehen die Vorteile der kleinen Klassen und der intensiven Betreuung  - aber sie sehen das nicht immer von Anfang an so”, sagt Domhöver. Vorwürfe macht er den Eltern allerdings nicht. Im Gegenteil. “Viele Eltern verarbeiten die Diagnose, dass ihr Kind geistig behindert ist, nur sehr schwer. Das ist natürlich nachvollziehbar.” Problematisch sei aber vor allem, dass sie die Situation erst sehr spät realisieren – nämlich erst, wenn das Kind eingeschult werden soll. Dann werde der Förderbedarf oftmals überhaupt erst deutlich – und die Eltern würden nachdenklich.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt stellt sich die Frage: Förder- oder Regelschule? Laut Schulgesetz haben Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ein Recht auf inklusive Bildung. Schulaufsicht und Schulträger müssen mindestens eine Schule benennen, die für das Gemeinsame Lernen personell und sächlich ausgestattet ist. Eltern können jedoch selbst entscheiden, ob ihr Kind an einer Regel- oder Förderschule unterrichtet werden soll. Leicht ist eine solche Entscheidung in vielen Fällen nicht.

Die Angst vor der Ausgrenzung

Eltern, die ihre Kinder auf die Förderschule schicken, tun dies laut einer repräsentativen Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2014 vor allem, weil sie verhindern wollen, dass ihr Kind immer wieder das Gefühl hat, zu scheitern (78 Prozent der Befragten). Viele fürchten zudem, dass ihr Kind an einer Regelschule ausgegrenzt werden könnte, weil andere Schüler keine Rücksicht nehmen (71 Prozent). Eltern, die ihre Kinder auf eine Regelschule schicken, tun dies vor allem, weil sie davon überzeugt sind, dass es ihrem Kind dadurch leichter fällt, am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen (90 Prozent).

In Nicks Fall waren die Beweggründe für die Wahl der Förderschule ganz ähnlich. „Man muss sich überlegen, ob man dem Kind mit der Regelschule einen Gefallen tut. Nick wäre dort wahrscheinlich nur frustriert, weil er nicht mithalten könnte. Er hat eben nur einen IQ von 45. Das lässt sich nicht ändern“, sagt seine Pflegemutter Andrea Adrowski. Nick ist natürlich trotzdem ihr Schatz und sie ist mächtig stolz darauf, wie ihr Kind sich an der Förderschule schlägt, mit wie viel Enthusiasmus der 13-Jährige bei der Sache ist: „Für ihn ist es eine Strafe, nicht zur Schule gehen zu dürfen. Wenn er mal krank ist und zuhause bleiben muss, dann weint er auch schon mal.“ Wenn Nick frustriert ist, dann liegt das meist nicht an der Haldenwangschule, sondern eher an seinem Pflegebruder. „Der Kleine wurde gerade erst eingeschult und kann schon im Zahlenbereich über zehn rechnen. Er ist sehr intelligent und das nervt Nick  manchmal. Andererseits motiviert es ihn auch“, sagt Adrowski.

Dass Nick mit 13 Jahren noch keine Schleife binden kann, stört seine Pflegemutter nicht. Andere Dinge sind ihr viel wichtiger. Lesen zum Beispiel und natürlich rechnen. Damit er auch mal alleine einkaufen gehen kann. Und damit er irgendwann eine Arbeit findet, die ihm Spaß macht. Dass Nick seinen Traumberuf wohl nie ausüben können wird, weiß Adrowski: „Da brauchen wir uns nichts vormachen. Nick träumt, wie die meisten Jungs in seinem Alter, davon, einmal Polizist oder Feuerwehrmann zu sein. Das wird aber nicht klappen.“ Nicks Weg werde wohl zunächst in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung führen. Und dann vielleicht irgendwann auf einen ausgelagerten Arbeitsplatz. Welche Tätigkeit er dann wohl ausüben wird? „Da machen wir uns jetzt noch keine Gedanken. Wir haben ja noch Zeit bis, die ersten Praktika auf dem Programm stehen“, sagt seine Pflegemutter.

Niemand steht nach der Schule mit leeren Händen da

Dass viele Schüler ihren Wunschberuf wohl nie ausüben können werden, teilt Schulleiter Ulrich Domhöver den Eltern nur ungern mit. Aber es geht nicht anders. „Auch da muss man ziemlich behutsam vorgehen. Es gibt Schüler, die sind mit sieben Jahren auf dem gleichen intellektuellen Stand wie mit 18 Jahren. Das ist dann natürlich irgendwo enttäuschend, aber es ist nun mal so – und man muss das akzeptieren“, sagt er. Doch obwohl die Schüler der Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung nach dem elften Schuljahr kein gewöhnliches Zeugnis, sondern eher eine Art Bescheinigung erhalten, gibt es für sie Möglichkeiten. Niemand steht nach der Schule alleine da. Wenn sie körperlich und geistig in der Lage sind, zu arbeiten, haben die Schulabsolventen in jedem Fall die Möglichkeit, dies in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) zu tun. Das ist bei 97 Prozent der Haldenwangschüler der Fall. Manche schaffen es aber auch auf geschützte ausgelagerte Arbeitsplätze oder sogar auf den ersten Arbeitsmarkt.

Um diese Chance zu erhöhen und den Schülern ihre beruflichen Möglichkeiten aufzuzeigen, gibt es an der Haldenwangschule eine Berufspraxisstufe sowie das vom Landesverband Westfalen-Lippe organisierte Projekt „STAR“ (Schule trifft Arbeitswelt). Hierzu gehören die Berufswegeplanung einschließlich Potentialanalyse, Betriebserkundungen und Praktika.

Victor (15) und Marius (16) haben bereits erste konkrete Einblicke in die Arbeitswelt bekommen – Victor durch ein Praktikum im Museum und Marius durch einen Besuch beim Berufsbildungswerk. Kennengelernt hat er dort die Arbeit in einer Tischlerei sowie den Bereich Elektro- und Metallbau. „Das hat mir schon ganz gut gefallen. Aber eigentlich wollte ich schon immer etwas ganz anderes machen: Friseur“, sagt Marius grinsend. Ob daraus noch etwas wird? Der 16-Jährige will es zumindest weiter versuchen. Und vertraut man der Statistik, dann ist die Chance durchaus vorhanden – selbst wenn sie nur bei drei Prozent liegt.

Mehr als nur Beschäftigung

Arbeiten mit geistiger Behinderung

In der Region Westfalen-Lippe arbeiten 32.189 Menschen mit einer geistigen Behinderung in „Werkstätten für behinderte Menschen“ (WfbM). Einige von ihnen sind auf sogenannten ausgelagerten Arbeitsplätzen in externen Betrieben tätig – entweder alleine oder aber auch in Gruppen. Und ein kleiner Teil schafft sogar den Sprung auf den allgemeinen ersten Arbeitsmarkt. Weil ihnen das Erlernen von Arbeitsschritten in der Regel nicht leicht fällt, ist das häufig ein langer Prozess – aber der Aufwand „lohnt“ sich. Denn für ein glückliches und erfülltes Leben ist Arbeit mindestens genauso wichtig wie der Zugang zu Bildung und Freizeitmöglichkeiten.

Die Fäden in der Hand halten

„Die Menschen, die zu uns kommen, können nicht die Leistungen erbringen, die für den allgemeinen ersten Arbeitsmarkt nötig sind“, sagt Steffen Landmann. Landmann ist neben seiner Funktion als Integrationsassistent für den Berufsbildungsbereich der Werkstätten der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Dortmund zuständig. Hier arbeiten fast 950 Menschen mit psychischen Erkrankungen, geistiger Behinderung und Mehrfachbehinderung in den unterschiedlichsten Bereichen – vom Lager- und Logistikbereich über die Wäscherei bis hin zur Montage-Abteilung. Hinzu kommen externe Angebote wie Landschaftspflege oder der Biohof inklusive Metzgerei. Das, was die Mitarbeiter hier tun, ist alles andere als bloße Beschäftigungs-Therapie. Sie sind Dienstleister. „Zu den Kunden unserer Wäscherei zählen vor allem Seniorenheime. Unsere Montage-Dienste nutzen unter anderem Autohersteller“, sagt Landmann.

Sobald ein neuer Mitarbeiter in die Werkstatt kommt, steht zunächst ein dreimonatiges Eingangsverfahren auf dem Programm, bei dem Stärken, Fähigkeiten und Potentiale ermittelt werden. Dann folgt die zweijährige „Qualifizierung“ in einem internen oder externen Arbeitsbereich – und manchmal sogar der Weg auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.

Davon ist Asiba Hiseinosku noch ein ganzes Stück entfernt. Die 18-Jährige ist erst seit wenigen Wochen hier und schnuppert gerade in die verschiedenen Arbeitsbereiche hinein. Heute sitzt sie an einer großen Maschine mit Display. Sobald die Zahl „300“ erscheint, hält Asiba eine kleine Pappschachtel unter den langen Schacht, aus dem kurz darauf 300 Schrauben rutschen. Noch schnell den Deckel schließen und schon ist das Produkt fertig. Obwohl sie immer wieder denselben Arbeitsschritt wiederholt, hat Asiba Spaß an ihrem Probejob. „Mir gefällt das eigentlich ganz gut. Auch die Leute hier sind sehr nett“, sagt sie.

Ein paar Tische weiter bedient Cordula Springer eine Nähmaschine. Die 37-Jährige ist ziemlich geschickt. Krawatten und Kittel näht sie am liebsten. „Aber nicht zuhause – da stricke ich lieber“, sagt sie und deutet auf den Schrank hinter sich: „So etwas machen wir hier auch“. Auf dem Schrank sitzen viele kleine Plüschtiere – Teddybären, Hasen und Pferde. Auch eine kleine Robbe sitzt dort. Sie wurde gerade erst repariert. „Und wenn ich nicht nähe oder stricke, dann tanze ich. Am liebsten Bollywood. Da haben wir letztens sogar einen Film von uns gedreht“, sagt Cordula.

Cordula und Asiba fühlen sich wohl in der Werkstatt. Dass dies nicht bei allen Mitarbeitern so ist, weiß Steffen Landmann: „Die meisten wollen irgendwann nicht mehr in der Werkstatt, sondern draußen arbeiten. Auf ausgelagerten Arbeitsplätzen – in Gruppen oder auch alleine. Das ist leider nicht immer so einfach. Bei manchen klappt es aber.“

Seines Glückes Schmied sein

Marcel Hohmann ist kein Fan von Werkstatt-Arbeit. Handwerkliches Arbeiten liegt ihm zwar, doch der 27-Jährige fühlt sich an der frischen Luft wesentlich wohler als in geschlossenen Räumen. Nach der Förderschule besuchte er zunächst das Christliche Jugenddorfwerk Deutschlands (CJD) in Dortmund und arbeitete in einer Gärtnerei. „Dann hat mir eine Frau vom Arbeitsamt gesagt, ich soll mal zur AWO-Werkstatt gehen, weil ich noch zu kindisch war“,  erklärt Marcel. Wütend war er deswegen nicht. Sonderlich erfreut allerdings auch nicht.

In der Dortmunder AWO-Werkstatt absolvierte Marcel daraufhin das zweijährige Qualifizierungsprogramm im Berufsbildungsbereich - inklusive einer Tätigkeit im Zentrum für therapeutisches Reiten, einer Werkstatt-Zweigstelle in Lünen. Das Zentrum hat der 27-Jährige inzwischen verlassen, die Nähe zu den Pferden ist ihm aber geblieben: Seit vier Jahren arbeitet Marcel bereits bei Hufschmied Holger Prein und zieht täglich mit seinem Chef und einem Arbeitskollegen von Hof zu Hof. Heute steht Arbeit auf einem Reithof in Herdecke auf dem Programm.

„Jetzt ganz ruhig bleiben. Das tut nicht weh“, sagt Marcel, während er vorsichtig das Hinterbein von Bragi, einem Isländer-Pferd, hochhält. Holger Preine reicht die Zange mit dem glühenden Hufeisen an seinen Mitarbeiter Markus Bovelette, der es behutsam auf Bragis Huf presst. Es qualmt, aber das Pferd bleibt ruhig. Marcel hatte offensichtlich Recht. Für eine ungelernte Arbeitskraft macht Marcel seinen Job wirklich gut. Eisen abnehmen, schleifen, feilen, bohren – das alles ist für den 27-Jährigen längst Routine. Womit er seinen Chef noch mehr beeindruckt, ist allerdings seine Art, mit Tieren umzugehen. „Marcel hat eine solche Ruhe und Gelassenheit – das merken die Pferde. Er schafft es sogar, Tiere zu beruhigen, bei denen mir das nicht gelingt“, sagt Holger Preine augenzwinkernd.

Marcel hat Spaß an seinem Job. Der Umgang mit Tieren, das gute Verhältnis zu den Arbeitskollegen – da macht es ihm auch nichts aus, wenn ihm mal ein Pferd auf den Fuß steigt: „Das ist schon ein oder zwei Mal passiert. Aber es ist alles gut gegangen dank der Sicherheitsschuhe.“

Wenn es einem seiner Schützlinge außerhalb der Werkstatt so gut gefällt, dann ist das auch für Steffen Landmann eine Genugtuung. „Es ist natürlich wichtig und schön, wenn jemand nach zwei Jahren Qualifizierung seinen Platz in der Werkstatt findet. Wenn man aber die Träume und Wünsche von denjenigen erfüllen kann, die lieber außerhalb der Werkstatt arbeiten wollen, dann ist das die Krönung und macht einen auch selbst glücklich“, sagt der Integrationsbeauftragte der AWO-Werkstatt.

Aus der Werkstatt auf den Arbeitsmarkt

Etwa 100 Menschen mit Behinderung schaffen es durchschnittlich pro Jahr aus der Werkstatt auf einen ausgelagerten Arbeitsplatz. 60 bis 70 von ihnen arbeiten in Gruppen und 25 bis 30 – wie Marcel – alleine in verschiedenen Betrieben wie Lebensmitteldiscountern, Möbelhäusern oder Logistikunternehmen. Ein bis zwei Menschen mit Behinderung bekommen sogar einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt. Ganz unproblematisch ist das jedoch nicht, wie Landmann erklärt: „Wenn sie wirklich eine Festanstellung bekommen, dann verlieren sie damit ihren Werkstatt-Status. Essensgeld, Fahrtkosten, Renteneinzahlungen, Versicherungen – das läuft dann alles nicht mehr über die Werkstatt, sondern sie müssen es von ihrem eigenen Gehalt zahlen. Mit dem Mindestlohn, den die meisten Arbeitgeber ihnen bieten, ist das aber nur schwer möglich. Da sind viele mit dem Werkstattlohn besser dran.“

Landmann muss dann in seiner Rolle als Integrationsassistent Verhandlungsgeschick beweisen – und auch dafür sorgen, dass die Rahmenbedingungen am potentiellen neuen Arbeitsplatz stimmen. Vor diesem Hintergrund sei der Weg aus der Werkstatt auf den allgemeinen ersten Arbeitsmarkt häufig ein ziemlich schmaler Grat: „Wir müssen unsere Mitarbeiter in besonderem Maße vor Stress und Akkordarbeit schützen. Da können ganz banale Dinge entscheidend sein, ein oder zwei kurze Pausen mehr am Tag beispielsweise. Das klappt vor allem bei ausgelagerten Gruppenarbeitsplätzen noch sehr gut, weil sie dort unter professioneller Betreuung arbeiten. Auf dem ersten Arbeitsmarkt kann das schon schwieriger werden.“

Also grundsätzlich lieber Werkstatt als Arbeitsmarkt? Nein, sagt Landmann. Das wäre die falsche Herangehensweise. „Das Wichtigste ist, die Potentiale der Menschen auszuschöpfen und ihre Wünsche zu respektieren. Wenn jemand eine Festanstellung außerhalb der Werkstatt möchte, dann versuchen wir alles, um das zu ermöglichen. Sofern derjenige körperlich und geistig in der Lage und der Arbeitgeber bereit dazu ist, steht dem nichts im Weg. Aber das funktioniert eben leider nur sehr selten.“

Ob er irgendwann eine Festanstellung bekommt oder weiterhin „nur“ als Hilfskraft arbeitet, bereitet Marcel momentan kein Kopfzerbrechen: „Die Hauptsache ist doch, dass ich weiter beim Hufschmied arbeiten kann“, sagt er mit funkelnden Augen. Dass er sich an seinem Arbeitsplatz auch gut ohne eine spezielle Unterstützungskraft würde behaupten können, stand bei Marcel relativ schnell fest. Andere sind auf solche Unterstützung allerdings angewiesen – und das geschieht häufig auch in Form von Gruppenarbeit.

Nicht nur sein eigenes Süppchen kochen

In der kleinen Gemeinde Nordkirchen gibt es einen solchen Fall – ein anderes Beispiel dafür, wie Inklusion auf dem Arbeitsmarkt funktionieren kann. Mitten im Ortskern liegt die sogenannte Kinderheilstätte. Was genau diese Einrichtung auszeichnet, erklärt Sprecherin Hannah Iserloh so: „In der Kinderheilstätte leben und lernen Kinder mit Behinderung – vom Kleinkindalter bis hin zu jungen Erwachsenen. Wir haben verschiedene Bereiche, in denen wir diese Kinder fördern. Es gibt eine Frühförderstelle, da geht es schon um Babys oder Kleinkinder bis zum Schulalter. Wir haben einen integrativen Kindergarten, es gibt ein Wohnheim und eine Schule. Und es geht uns immer darum, dass die Kinder bei uns alles lernen, was sie lernen können, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen. Das machen wir in verschiedenen Bereichen und auf unterschiedliche Art und Weise.“

Ganz neu – und auch ganz besonders – ist die Integrationsküche auf dem Gelände. 25 Mitarbeiter versorgen den Wohnheimbereich der Einrichtung, aber etwa auch die Kindergärten und die Gesamt-Regelschule in Nordkirchen mit einem warmen Mittagessen – durchschnittlich 800 Gerichte werden so pro Tag produziert. Im Unterschied zu anderen Großküchen arbeiten am Herd, an der Spülmaschine und an der Theke aber Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam – und machen den Arbeitsplatz so zu einem, der den Zusatz „integrativ“ verdient.

Die Integrationsküche im Video-Portrait:

Als vor einiger Zeit klar war, dass die ursprüngliche Küche der Kinderheilstätte erneuert werden muss, war man sich schnell einig, in welche Richtung das gehen sollte: „Wenn man sich anguckt, was wir in der Kinderheilstätte tun, dann war der nächste Schritt eigentlich logisch: wir wollen Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung schaffen. Und warum sollten wir das nicht auch in der Küche tun?“, sagt Hannah Iserloh.

Schon fast ein Jahr lang läuft der Betrieb. Und laut Küchenleiter Abdelhak Ouajoudi läuft er gut. Der Profi, der vorher für das Studentenwerk in Münster gearbeitet hat, sagt aber auch, dass ein Projekt wie die Integrationsküche auch für ihn eine Herausforderung ist. Den Menschen mit Behinderung gerecht zu werden, sie zu fordern, aber nicht zu überfordern sei manchmal nicht so leicht: „Vor allem diesen Punkt zu beachten und dann wirtschaftlich zusammenzuarbeiten ist eine große Herausforderung, die ich persönlich aber sehr reizvoll finde.“

Ob nun Werkstatt, Schmiede oder Küche, in Gruppen oder alleine – Cordula, Asiba, Marcel und die Menschen, die in der Küche der Kinderheilstätte arbeiten sind sich vor allem in einem Punkt einig: dass sich der Aufwand in jedem Fall lohnt.

Eigene Wohnung oder Leben im Heim?

Wohnen mit Behinderung


"Das ist eben Menschsein"

Lieben mit geistiger Behinderung

Liebe gehört zum Leben - Partnerschaft, Sex und Kinderwünsche sind bei Menschen, die eine geistige Beeinträchtigung haben, genauso da wie bei Menschen, die keine haben. Ein Interview über ein Tabu-Thema mit Gabriele Beckmann, die bei der Lebenshilfe in Dortmund den Fachbereich Beratung, Assistenz und Freizeit leitet.




Lieben mit geistiger Behinderung: Ist das Ihrer Meinung nach ein Tabu-Thema?

Es ist immer noch ein Tabu-Thema. Es ist schwer, überhaupt zu diesem Thema bei Eltern und bei Menschen mit Behinderung einen Zugang zu finden. Wir haben hier bei der Lebenshilfe in Dortmund schon versucht, Informationsangebote und Gesprächsangebote anzubieten. Es gibt eine ausgebildete Sexualpädagogin bei der Lebenshilfe Waltrop, die wir dafür engagiert hatten. Wir mussten alle Termine absagen, weil sich keiner angemeldet hatte.

Warum ist das so?

Ich glaube, das ist immer noch ein Thema, das für Menschen mit Behinderungen und für Eltern häufig mit Scham besetzt ist. Es schlägt meistens in der Beratungsstelle erst auf, wenn es Probleme gibt. Es braucht immer auch ein gewisses Vertrauen, um überhaupt daüber sprechen zu können. In den Bereichen ambulantes und stationäres Wohnen gibt es dazu eher einen Zugang. Die Menschen haben Vertrauen zu ihrem Bezugsbetreuer. Da wird offen über dieses Thema gesprochen. Bei uns in der Beratungsstelle allerdings schlägt so etwas kaum auf. Höchstens, wenn es problematische sexuelle Verhaltensweisen gibt – und Druck entsteht.


Aber das Bedürfnis nach Liebe, nach Partnerschaft ist ja da – auch bei Menschen mit Behinderung.

Richtig. Das ist genauso wie bei anderen Menschen: Es ist da. Sozialarbeiter in den Schulen zum Beispiel sagen, das Liebe und Sexualität ein großes, drückendes Thema ist. Aber es ist ganz schwierig, Zugang dazu zu bekommen.

Sie sagten ja, in Wohnstätten ist das Thema präsenter als in der Beratungsstelle oder etwa in der Schule. Wie taucht es da auf?

Das ist vielfältig: Es gibt zum Beispiel Freundschaften innerhalb einer Wohngruppe, wir hatten auch schon Verlobungen oder Menschen sind in ein Zimmer zusammengezogen. Aber es gibt natürlich auch alle anderen Facetten. Es gibt Liebeskummer. Es gibt Streit. Es gibt „Ich finde keinen“. Das Thema ist in seiner Vielfältigkeit genauso zu finden, wie bei allen anderen Menschen. Es wird sehr offen damit umgegangen. Auch Möglichkeiten zur Sexualassistenz werden besprochen.

Was genau bedeutet Sexualassistenz?

Genauso wie es Prostituierte gibt, gibt es eben auch professionelle Sexualassistenten, die Menschen mit Behinderung buchen können, um mit ihnen Sexualität zu leben. Das kann natürlich ganz unterschiedlich aussehen.

Bezahlen müssen das die Menschen mit Behinderung dann aus eigener Tasche?

Ja, das müssen sie selbst bezahlen. Das ist natürlich auch wieder ein Tabu-Thema. Die Menschen haben ja auch Betreuer oder Unterstützer, wo diese Grenze manchmal unscharf wird zwischen dem, was noch Betreuung ist und was schon Befriedigung des Sexualtriebes ist. Und auch dieses Tabu-Thema gibt es.

Schwierig wird es sicher auch, wenn Menschen mit geistiger Behinderung gar nicht so richtig artikulieren können, was genau sie möchten, oder?

Ja, sicher. Es gibt ja viele schwerst-mehrfach behinderte Menschen, die sich natürlich auch nach Liebe und Sexualität sehnen - und die vielleicht nicht einmal in der Lage sind, sich selbst zu befriedigen. Da kann man sich vorstellen, dass das irgendwie aufgefangen werden muss. Es ist natürlich ein Thema, das viel Behutsamkeit, Einfühlungsvermögen und - wenn möglich - viele Gespräche braucht. Manchmal äußern sich diese Wünsche gar nicht so direkt und klar, sondern indirekt durch das Verhalten.

Wie sieht es mit der Verhütung aus? Vielleicht können Sie das mal anhand eines Beispiels erklären: Wie wäre das bei einem 16-jährigen Mädchen mit geistiger Behinderung, das Sex haben möchte?

Die 16-Jährige lebt ja häufig noch zu Hause und wird dann mit ihrem Wunsch an ihre Eltern herantreten oder ihre Eltern mit der Notwendigkeit konfrontieren. Da ist natürlich immer die Frage: Welche Einstellung haben die Eltern? Möglichkeiten, die Pille zu bekommen oder über Verhütung zu sprechen, die gibt es. Aber ein 16-jähriges Mädchen mit einer geistigen Behinderung kann das meistens nicht alleine lösen. Es besteht ein höheres Abhängigkeitssystem, als beispielsweise bei einem 16-jährigen Mädchen ohne Behinderung, das dann einfach mit seiner Karte zum Arzt geht und sagt, dass es die Pille haben möchte.

Erleben Sie es oft, dass Eltern ihren geistig behinderten Kindern gar keinen Zugang zu dem Thema eröffnen und von vornherein ausschließen, dass ihr Kind je Sex haben wird?

Ich glaube, dass mit dem Thema heutzutage schon sehr viel offener umgegangen wird, als noch vor 20 oder 30 Jahren. Ich bin jetzt seit 20 Jahren in der Lebenshilfe aktiv und ich erlebe schon bei einigen Eltern eine höhere Offenheit. Die jüngeren Eltern, deren Kinder mit Beeinträchtigung jetzt in der Pubertät und im jungen Erwachsenenalter sind, haben zu Sexualität einen ganz anderen Zugang, als das vor 20 Jahren noch der Fall war. Es gibt auch Eltern, die sich vorstellen können, dass ihre Kinder heiraten oder vielleicht auch ein Kind bekommen können. Vor 20 Jahren wäre diese Offenheit noch nicht möglich gewesen. Vor allem auch, wenn es um die Frage geht, ob Menschen mit geistiger Behinderung selber Eltern werden sollen.

Und das ist ja so, oder?

Das ist so, ja.


Erleben sie das häufig oder kennen Sie viele Menschen mit geistiger Behinderung, die Eltern werden?

Häufig - was ist häufig? Also sagen wir mal so: Seit ungefähr dreizehn Jahren bieten wir die sogenannte „Begleitete Elternschaft“ an. Wir betreuen bei der Lebenshilfe Dortmund meistens zwischen fünf und sechs Familien.

Was genau ist „Begleitete Elternschaft“?

Das heißt, dass der Jugendhilfeträger eine pädagogische Begleitung für die Eltern zur Verfügung stellt, damit das Kindeswohl gesichert ist. Wie das im Einzelfall gelebt wird, ist immer vom Bedarf der Familie abhängig. Wir haben zum Beispiel Eltern mit Neugeborenen betreut – da ist der Betreuungsbedarf gerade in der ersten Zeit meistens sehr hoch. Aber das ist wirklich ganz unterschiedlich – da lässt sich schwer eine gerade Linie finden. Man kann nur sagen: Die gerade Linie ist, dass es möglich ist. Es gibt Unterstützungsmöglichkeiten vom Jugendhilfeträger, im Idealfall natürlich auch vom sozialen Umfeld. Aber auch hier gibt es unterschiedliche Geschichten: Da haben Sie diejenigen, die ein Kind haben und es relativ gut funktioniert – das sind dann die Vorzeigefamilien. Aber es gibt auch die Familien, wo es dann gar nicht funktioniert, wo die Probleme so groß werden, dass die Eltern nicht in der Lage sind, diese zu bewältigen.

Haben Sie schon mal mit einem Kind gesprochen, das aus einer Familie kommt, in der die Elternteile eine geistige Behinderung haben?

Da war es so, dass es erst eine intakte Dreier-Familie war, dann kam die Trennung, dann waren Mutter und Kind allein, zwischenzeitlich auch in einer Mutter-Kind-Unterbringung. Als das Kind in die Pubertät kam, fiel die Entscheidung, dass es in eine Wohngruppe zieht. Da hat die Mutter zugestimmt. Weil das die Grenze war von dem, was sie leisten konnte. Pubertät, Schule – da war einfach die Grenze. Was ich heute noch ganz bemerkenswert und auch bewundernswert finde, ist, dass die Mutter immer im Sinne ihres Kindes entschieden hat. Trotz aller Problematiken, trotz ihrer Beeinträchtigung. Sie hat auch immer noch Kontakt zu ihrem Kind, es gibt immer noch Besuche, das ist nicht abgerissen. Aber es ist halt nicht so gelaufen, wie man sich das normalerweise vorstellt. Das war wirklich das Beste, was unter diesen Bedingungen geschehen konnte.


Ich finde es schwierig, sich in so ein Kind hineinzuversetzen…

Was man beobachtet ist, dass die Kinder häufig Verantwortung für die Eltern übernehmen. Die Kinder haben sicher dadurch besondere Bedingungen – ganz klar.

Wenn wir noch mal zurückschauen in die 70er-Jahre und die Geschichte der Behindertenbewegung: Damals berichteten viele Mädchen und Frauen mit Behinderung, die in Heimen lebten, von sexualisierter Gewalt, die sie dort erlitten haben. Wie wird heute mit dem Thema umgegangen?

Das ist auf jeden Fall heute noch ein Thema. Aber das erleben wir hier in der Beratungsstelle nicht häufig. Von den Kollegen, die im Bereich Wohnen arbeiten, weiß ich, dass wir Frauen aber auch Männer betreuen, die in ihrer Vergangenheit sexuelle Gewalt erlebt haben. Das ist immer noch ein Thema – ob das jetzt größer geworden ist, das vermag ich nicht zu sagen, weil es ja auch noch ein weiteres großes Tabu ist. Aber es ist da. In der Stadt Dortmund gibt es jetzt eine Initiative, angeregt durch die Behindertenbeauftragte, dieses Thema zu bearbeiten und aus dem Dunklen herauszuholen und zu schauen: Was gibt es für diese Menschen eigentlich für Netzwerke?

Erleben Sie es auch, dass Menschen ohne Behinderung versuchen, Menschen, die eine Behinderung haben, in sexueller Hinsicht auszunutzen?

Das haben wir auch erlebt. Wir bieten aus diesem Grund zum Beispiel auch eine Single-Disko an, für die wir ganz klar definieren, dass es eine Single Disko für Menschen mit Behinderung ist. Wir würden  niemals eine inklusive Single-Disko veranstalten, weil wir davon ausgehen, dass der Mensch sich einen Partner sucht, der irgendwo auf seinem Level ist. Bei der Single-Disko definieren wir es sehr klar, weil wir nicht wollen, dass da Menschen kommen, die Interesse daran haben, Menschen mit Behinderung auszunutzen. Denen wollen wir ganz entschieden gegenübertreten.

Erzählen Sie ein bisschen mehr von der Single-Disko. Was genau ist das für eine Veranstaltung?

Bei der Single Disco haben wir circa 500 Besucher, überwiegend Menschen mit einer leichten geistigen Beeinträchtigung und/ oder einer schwerst-mehrfach Behinderung. Sie findet einmal im Jahr im Dietrich-Keuning-Haus statt. Da reisen die Menschen von Münster und ich weiß nicht von wo an, um teilzunehmen. Bei der Veranstaltung gibt es einen Fotografen, um ein Bild für seinen persönlichen Steckbrief zu machen, eine Kosmetikerin, um sich stylen zu lassen. Wir bieten eine Partnerbörse, eine Flirt-Ecke, ein Speed-Dating an. Es herrscht überall großer Andrang und das macht deutlich, wie brennend das Thema für die Menschen ist. Dazu gibt es natürlich viel Musik und einen DJ… Aber die Flirt-Ecke, die ist immer sehr begehrt und voll. Natürlich können auch gleichgeschlechtliche Partner gesucht werden – auch das ist bei geistig behinderten Menschen ganz normal.

Vielleicht nehmen wir zum Abschluss noch ein Fallbeispiel. Dieses Mal sitzt eine 30-jährige Frau mit geistiger Behinderung. Sie sagt zu Ihnen: „Ich träume davon, zu heiraten und ein Kind zu kriegen, helfen Sie mir.“ Wie würden Sie sie beraten?

Da brauchen wir einen längeren Termin – für die Beratung haben wir auch Material zur Verfügung mit Bildkarten und ähnlichem. Wir müssten die Frau erst einmal kennen lernen – wo wohnt sie, wie wohnt sie, gibt es Unterstützer? Wir fragen danach: Was wünscht sich derjenige, was sind die Träume, was möchte jemand gerne verwirklichen? Und im nächsten Schritt wird gemeinsam überlegt, wer die Frau bei der Verwirklichung des Wunsches unterstützen könnte. Sagen wir mal idealerweise, diese 30-jährige Frau hat noch Eltern, die ihr helfen. Dann wäre die Frage: Welche Unterstützung benötigt die Frau dabei jemanden kennenzulernen? Eine Möglichkeit könnte sein, eine Partnerschaftsanzeige aufzugeben, es gibt diverse Portale für Menschen mit Behinderung. Oder vielleicht gibt es ja sogar schon eine heimliche Liebe...

Sind Sie da oft in der Situation, dass Sie auch Träume zerstören müssen?

Ja sicher, das gehört dazu – dass man ganz klar noch mal hinterfragen muss: Ist der Wunsch erreichbar oder was bleibt auch Traum? Aber das ist genauso wie bei allen anderen Menschen auch. Es gibt eben auch für Menschen mit Behinderungen und ihre Träume Grenzen. Und es ist wichtig zu kommunizieren, dass auch gesunde Menschen Träume haben und nicht alle in Erfüllung gehen. Das ist eben Menschsein. Wenn sich Gespräche entwickeln und man öfter miteinander zu tun hat, dann entwickelt sich auch die Basis, um so etwas zu thematisieren. Vielleicht ist es für die Frau schon eine wesentliche Lebenswertverbesserung, wenn sich bei den Gesprächen herausstellt, dass sie gar kein Mensch ist, der gerne allein ist, sondern dass sie lieber mit anderen zusammen wohnen möchte. Dass dieser Ausdruck „Ich möchte gerne heiraten“ ein Teilaspekt davon ist, dass sie stärker eingebunden sein möchte. Das ist ein erster kleiner Baustein, der sich vielleicht zeitnah auch verwirklichen lässt.


Mir ist vor allem wichtig, dass wir alles tun sollten, damit das Thema Liebe und Sexualität mit Behinderung noch offener wird. Dass es einfach zur Normalität dazu gehört. Ich würde mir wünschen, dass sich mehr Menschen trauen, mit diesem Thema zu uns in die Beratung zu kommen. Ich glaube, dass Gespräche viel bewirken können. Damit es für Alle einfach normaler wird.

„Ach Inge, was wär‘ ich ohne dich“

Älter und alt werden mit geistiger Behinderung

Dass Ingrid Borbe einmal alt werden würde, dass sie ihr Leben leben würde – kurz nach ihrer Geburt im Jahr 1961 hatte ihr das fast keiner zugetraut. „Eigentlich ist alles normal verlaufen“, erzählt ihre Mutter Alma Borbe (84) im Rückblick auf die Hausgeburt. Eigentlich. Denn kurz danach kamen die Fragen - und die Gewissheit, dass mit Ingrid etwas nicht stimmte.

„Ihre Zunge war so dick. Sie konnte nichts trinken“, erinnert sich Alma Borbe an die Zeit kurz nach der Geburt. „Ihre Augen gingen auch immer kreuz und quer“, schaltet sich Herbert Borbe, der Vater von Ingrid, ein. Was war los mit Ingrid?  Warum wollte sie als kleines Kind nicht trinken? Warum ging die Gelbsucht nicht weg? Warum war sie so schwach, wurde von Tag zu Tag schwächer? Lange hat es damals gedauert, bis die Familie aus Selm-Bork eine Antwort auf diese Frage bekam. Auch die Ärzte im Krankenhaus, in dem die Borbes kurz nach der Geburt Hilfe suchten, wussten keinen Rat – im Gegenteil. „Schauen sie sich das Kind doch mal an“, so erzählt Alma Borbe noch immer aufgebracht, was ihr eine Ärztin damals sagte, „das wird doch niemals überleben.“

Nach dieser Aussage, so sagt sie weiter, habe sie darauf bestanden, ihre Tochter wieder mit nach Hause zu nehmen. Und weiter alles zu tun, damit sie leben kann. Ihr Mann und sie haben Probleme, jetzt, 55 Jahre später, noch genau zu rekonstruieren, wann sie mit ihrem dritten Kind bei welchen Ärzten gewesen sind – noch genau erinnern sie sich allerdings, wo sie dann endlich eine Diagnose bekamen. Ingrid war ohne Schilddrüse auf die Welt gekommen, wie schließlich in einer Fachklinik in Münster festgestellt wurde, als sie ein paar Monate alt war. „Das war dort damals erst der zweite Fall dieser Krankheit“, erzählt Alma Borbe. In der Klinik wurde Ingrid – kurz Inge genannt –  „aufgepäppelt“. „Wir haben sie fast gar nicht wiedererkannt“, sagt Herbert Borbe. „Ich weiß noch wie sie da lag, das Köpfchen immer zur Seite, zum Fenster gerichtet, weil sie immer rausgucken wollte“, erinnert sich Alma.

Mehrere Monate musste Inge in der Klinik bleiben, nur einmal in der Woche konnten die Eltern, die damals noch kein Auto besaßen, zu Besuch kommen. Langsam kam Inge zu Kraft, es ging ihr besser. Was die Ärzte jedoch nicht verhindern konnten, war, dass sie eine geistige Behinderung zurückbehielt. Vielleicht, wenn man früher gewusst hätte, welche Krankheit sie hatte. Wenn. Vielleicht. Für die Familie Borbe spielt das heute nicht mehr so eine große Rolle. Im Vordergrund steht, dass Ingrid leben konnte. Oft hatte sie es schwer, lange hat es gedauert, bis sie laufen, sprechen, stricken konnte. Aber heute – mit 55 Jahren – kann sie das alles ganz selbstverständlich. Sie lebt gemeinsam mit Mutter und Vater in dem Haus, in dem sie geboren wurde und hat im Obergeschoss ihr eigenes Reich.

Dass Menschen mit einer Behinderung, Menschen wie Inge, ein gewisses Alter erreichen, dass sie alt werden, ist eine Tatsache, mit der die Gesellschaft in Deutschland viele Jahre nicht umgegangen ist und es auch gar nicht konnte. „Uns fehlt eine ganze Generation“, erklärt das Michael Wedershoven vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe, der als Kommunalverband für das Leisten von Behindertenhilfe zuständig ist. „Dafür gibt es zwei Gründe“, führt er weiter aus. Erstens sei die Lebenserwartung von Menschen mit Behinderung durch die medizinische Entwicklung und die gute Betreuung in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. „Zweites gab es im Dritten Reich gezielte Tötungen von Menschen mit Behinderungen“, sagt Michael Wedershoven weiter. „Diese Menschen fehlen natürlich, wenn wir heute von Senioren mit Behinderung reden.“

Wie Hochrechnungen zeigen, wird sich aber die Altersstruktur von Menschen mit Behinderung bis 2030 sehr deutlich ändern: Die Zahl der 60-Jährigen und älteren wird sich etwa vervierfachen.

Der LWL, so sagt es Michael Wedershoven, beschäftigt sich seit einigen Jahren mit dem Thema, arbeitet auch mit Hochschulen an Forschungsprojekten. Forschung, betont Michael Wedershoven, sei in diesem Zusammenhang ziemlich wichtig: Durch das Fehlen der Generation gibt es in Deutschland aktuell nämlich wenig Erfahrungswissen, auf das in diesem Gebiet zurückgegriffen werden kann.

Durch das Untersuchen des Ist-Zustandes, mit Hochrechnungen und Befragungen hat die Katholische Hochschule NRW in Kooperation mit dem LWL eine Studie herausgebracht, die unter anderem Bausteine beschreibt, wie ältere Menschen mit Behinderung in Zukunft leben möchten. Da tauchen Probleme und Herausforderungen auf wie die Gesundheit, die im Alter oft schwächer wird, Pflege, die notwendiger wird, der Verlust von lieben Menschen, das Wegfallen der Arbeit als Strukturgeber für den Tag. „Wohn- und Unterstützungsarrangements müssen die individuelle Bewältigung bzw. Gestaltung dieser Herausforderungen ermöglichen, ohne individuelle Entscheidungs- und Handlungsfreiräume, die gerade mit dem Alter verbunden sind, zu beschneiden“, heißt es in dem Bericht, in dem auch viele Konzepte hinterlegt sind, wie das erreicht werden kann.

Die Erkenntnis und Herausforderung für den LWL als Leister der Behindertenhilfe aus den zu erwartenden Entwicklungen formuliert der Sozialdezernent Matthias Münning so:  „Unsere Gesellschaft wird nicht nur älter und bunter, sondern auch behinderter. Mit der wachsenden Zahl älterer Menschen mit Behinderung verändern sich die Anforderungen an die Behindertenhilfe, die mit neuen Angeboten reagieren muss. Wichtig ist, dass wir möglichst viele Menschen in den eigenen vier Wänden betreuen, damit sie, so lange es geht, selbstständig bleiben können.“

In der Regel ist es nämlich so, dass – egal wie viele unterschiedliche Angebote zur Verfügung stehen – Menschen mit Behinderung (wie auch die meisten Menschen ohne Behinderung) sich wünschen, auch im hohen Alter weiter dort wohnen zu können, wo sie leben.  

Wie genau Ingrid Borbe ihren Lebensabend verbringen wird? Wer weiß das schon so genau. Fest steht, dass ihr älterer Bruder und ihre ältere Schwester jüngst die Vormundschaft für sie übernommen haben, dass sie Nichten und einen Neffen hat – ihr die Familie also lange nicht ausgehen wird, immer jemand da ist, um ihr zu helfen. So wie Inge immer gerne hilft. Sie ist es mittlerweile, die ihrem Vater, der nach einem Schlaganfall zum Pflegefall geworden ist, die Schuhe anzieht, die darauf schaut, dass er morgens, mittags, abends die richtige Anzahl an Tabletten schluckt. Sie leistet ihren Anteil in der Familie. „Ach Inge, was wär‘ ich ohne dich“, sagt Alma oft laut auflachend, wenn ihre Tochter ihrem langsamer werdenden Gedächtnis mal wieder auf die Sprünge geholfen hat. Sie vertritt ihren Standpunkt, beschwert sich bei ihrem Bruder, wenn sie der Meinung ist – übrigens mit dem ihr typischen Humor vorgetragen –, der Hund komme ja manchmal mehr raus, als sie selbst. Sie liebt es nämlich, in den Urlaub zu fahren. Im Sommer geht es an die Ostsee, zusammen mit Schwester, Tante und Nichte. Das war der erste Termin, der im Wandkalender der Familie stand. Inge hatte ihn selbst eingetragen. „Meine Kinder sind alle selbstständig“, kommentiert Alma das mit einem Lächeln. Das kleine schwache Mädchen, das damals in der Klinik immer so gerne aus dem Fenster ins Weite schaute, konnte zu einer älteren Frau werden, die getrost weiter in die Ferne blicken kann. Das Alter muss ihr nicht mehr Angst machen als jedem anderen auch – oder auch nicht.

Fotos, Texte und Layout: Marie Rademacher und Felix Püschner

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Leben mit geistiger Behinderung
  1. Einleitung
  2. Paula ist anders
  3. Alles eine Stufe zu hoch?
  4. Mehr als nur Beschäftigung
  5. Eigene Wohnung oder Leben im Heim?
  6. "Das ist eben Menschsein"
  7. „Ach Inge, was wär‘ ich ohne dich“
  8. Impressum und Credits