Am 11. Juni 2014 überfährt ein betrunkener Autofahrer (27) auf der "Großen Straße" in Nürnberg die 18-jährige Dortmunderin Marie Wagner. Das Landgericht in Nürnberg verurteilt den BMW-Fahrer später zu drei Jahren und zehn Monaten Haft.
Maries Mutter Claudia Wagner erhielt seit dem Tod ihrer Tochter über 400 Briefe von ihr teils unbekannten Menschen, die Mitgefühl aussprachen. Diese Briefe waren sehr wichtig für sie.
Jetzt sagt sie in einem Schreiben „Danke“.
Claudia Wagner (49) sitzt am 11. Juni 2014 nach dem Sport gegen 21 Uhr auf dem Sofa und sieht im ZDF die Sendung Aktenzeichen XY.
Dann schellt ihr Telefon.
„Mama, Mama, Mama“, schreit eine ihr bekannte Stimme immer wieder. Es ist die Stimme einer ihrer drei Töchter. Claudia Wagner kann diese Stimme weder ihrer jüngsten Tochter Marie (18), noch Caroline (23) oder Katharina (24) zuordnen, weil sich ihre Stimmen so sehr ähneln. „Sag jetzt, was passiert ist“, geht sie entschieden dazwischen. Sie erhält eine Antwort, die ihr Leben verändert.
„Marie ist tot!“
„Ich war alleine und habe so laut geschrien, dass man mich bis zum Ende der Straße gehört haben muss.“ Die Nachbarin aus der Etage über ihrer Wohnung in der Gartenstadt, eine Ärztin, hört diese Schreie und eilt zur Hilfe.
Zeitgleich versucht Claudia Wagner vergeblich, einen ihrer Brüder zu erreichen. Doch sie kann mit den zitternden Fingern nicht das Telefon bedienen. Die Nachbarin zieht einen Kollegen hinzu, die Brüder treffen ein. Ein Telefongespräch mit der Polizei in Nürnberg folgt dem nächsten. Längst ist offiziell bekannt, dass Marie auf der Großen Straße, auf Skatern unterwegs, von einem BMW angefahren und getötet wurde.
"Ich habe das dann auch gespürt", sagt die Mutter und fordert von ihren noch zögernden Helfern die Bestätigung ein. Noch in der Nacht fährt sie mit ihren Brüdern nach Nürnberg. Marie besuchte dort ihre älteste Schwester, die am 11. Juni gegen 21 Uhr zum Telefon gegriffen hat.
Marie. Ein Sonnenschein. Das sagen alle. Selbst die, die sie nur flüchtig kennen. Sie dachte zuletzt an sich selbst und immer zuerst an die Schwächeren. Ihre Mama: „Sie war das Leben und steckte alle anderen damit an. Mit ihrem fröhlichen Wesen konnte sie andere aus einem Loch ziehen.“ Sie war selbstbewusst und meinungsfreudig.
„Es gab nie Streit zwischen uns, wir hatten einen so liebevollen Umgang, es war die absolute Harmonie“, sagt Claudia Wagner, die am Borsigplatz aufgewachsen und stolz darauf ist und regelmäßig mit einer Dauerkarte auf der Südtribüne steht.
Marie ist im Sommer 2014 so stolz auf ihr Abitur am Käthe-Kollwitz-Gymnasium mit einem Notenschnitt von 1,8. Für ein Psychologiestudium reicht das noch nicht, aber das hat sowieso Zeit.
Denn seit Wochen schon hält sie über den Internet-Videodienst „Skype“ Kontakt zu einer Familie in Chicago, wo sie sich ab dem 4. August 2014 für ein Jahr als Au-Pair-Mädchen um die vier kleinen Kinder kümmern will. Als diese Familie später von Maries Tod erfährt, reagiert sie bestürzt:
„Es war für sie so, als hätten sie selbst einen Teil ihrer Familie verloren“, berichtet Claudia Wagner nach einem Kontakt mit der Gastfamilie in Amerika.
Marie ist ein sehr tiefgründiger Mensch. Sie verschlingt Bücher von Hermann Hesse, unterstreicht Textpassagen darin und schreibt ihre Gedanken an die Seitenränder. „Solche Bücher wünschte sie sich immer zum Geburtstag“, sagt Claudia Wagner.
Marie dachte viel nach. Sogar über ihren ersten Vornamen Michelle. Als sie zwölf Jahre alt ist, sieht sie einen Fernsehbericht. Demnach würden Lehrer Mädchen mit dem Vornamen „Michelle“ selbst bei gleicher Leistung anderer Mädchen benachteiligen. Marie holt ihren zweiten Vornamen nach vorn und teilt ihrer Welt mit, dass sie ab sofort Marie heißt. Punkt.
Ein starkes Mädchen, das als Kapitänin ihres Volleyballteams beim VSC 09 Schüren nur selten das Training ausfallen lässt („Da muss sie schon sehr krank gewesen sein“) und auch sonst nichts durchgehen lässt.
Ein ganz anderer Mensch als der 27-jährige betrunkene Fahrer, der sie am 11. Juni des vergangenen Jahres mit seinem 300 PS starken BMW bei mindestens Tempo 120 erfasst. Als Nebenklägerin sieht Claudia Wagner sechs Monate später, am 12. Dezember, den Fahrer im Landgericht Nürnberg.
„Er saß da mit hängenden Schultern. Ich hatte sogar Mitleid mit seinem Lebenslauf. Der ist nicht mit Liebe groß geworden.“ Die Richter verurteilen den Täter zu drei Jahren und zehn Monaten Gefängnis. „Wie viele Jahre er bekommt, das war nie wichtig. Denn es ist egal, wie hoch die Strafe ausfällt: Das bringt Marie nicht zurück.“
"Marie fehlt."
Kann die seit 13 Jahren alleinerziehende Mutter dem Fahrer, der sich im Prozess erst nach der Aufforderung durch seinen Anwalt mit gesenktem Kopf zu einer Entschuldigung durchringen kann, verzeihen? „Aus tiefem Herzen kam diese Entschuldigung nicht“, sagt Claudia Wagner und spricht kurz über die Wut, die sie aber verdrängt hat. Auch, um sich selbst zu schützen.
Zu dieser ersten Wut kommen später die Schmerzen. Die sind besonders groß, als Claudia Wagner vor dem Prozess einen Brief der Staatsanwaltschaft in Nürnberg in den Händen hält. Sie ist allein zu diesem Zeitpunkt. „Hätte ich gewusst, was darin steht, hätte ich ihn nicht geöffnet.“
Detailliert schildert das Schreiben Maries Verletzungen. „Ich habe die Bilder noch heute im Kopf.“ Und die eigenen Schmerzen, wie sind die? Claudia Wagner sagt sehr ruhig: „Das sind so tiefe seelische Schmerzen, die sind mit körperlichen Schmerzen nicht zu vergleichen.“
Im Dezember nimmt die 49-jährige Industriekauffrau und Sachbearbeiterin einen schweren Kampf auf. Es ist ihre verstorbene Tochter, mit der sie den Kampf gegen die Selbstaufgabe gewinnt. „Ich habe gemerkt, dass das Leben ohne Marie jetzt meine neue Aufgabe ist. Ich habe ja noch zwei Töchter, und Marie hätte nicht gewollt, dass ich aufgebe. Sie hätte mich viel lieber glücklich gesehen, obwohl sich mein Leben verändert hat.“
Claudia Wagner nimmt psychologische Hilfe in Anspruch, um das neue Leben, das Leben ohne die fröhliche Marie, leben zu können. Ihr fehlen die Briefchen, die ihre Jüngste immer so selbstbewusst in schöner Schreibschrift mit „Your best Mary“ („Deine beste Marie“) unterschrieben hat.
Geholfen haben auch die über 400 Briefe von vielen Mitmenschen, die ihr Mitgefühl ausdrückten. Claudia Wagner: „Ich will allen persönlich antworten und habe auch schon damit angefangen.“ Dieser Brief soll ihr die Arbeit schon einmal erleichtern:
"Danke, für jedes geschriebene und gesprochene Wort, für jede Umarmung und für jedes Tränen trocknen. Danke, dass ihr unentwegt an meiner Seite seid, Tag und Nacht und immer wieder. Danke an alle Menschen, auch an die, die ich leider gar nicht kenne, die in Gedanken bei mir sind und mir tröstende Worte zukommen lassen. Danke, für jegliche Art von Unterstützung. Es tut so gut und hilft mir weiter zu machen. Bei so viel Liebe, die mich umgibt, kann ich nicht aufgeben. Ich verspreche Euch, ich versuche auch weiterhin lachend durchs Leben zu ziehen, mit einer Träne und Marie im Herzen. Am Ende wird alles gut und ist es noch nicht gut, ist es noch nicht das Ende. Marie, Du bleibst!!"
Und geholfen haben die Besuche der vier besten Freundinnen Maries kurz vor Weihnachten: „Dieses typische Geschnatter der Mädchen ... das ist so, als wäre Marie dabei, aber nur gerade in einem anderen Raum.“
Am 5. Februar 2015 sind sie wieder alle beisammen. Die Freundinnen und die Familie feiern mit Claudia Wagner Maries Geburtstag. „Einer meiner Brüder spielt in einer Band und hat ein wunderschönes Lied für Marie geschrieben. Da freue ich mich sehr drauf. Marie feierte ja auch so gerne.“
Claudia Wagner wird Marie wiedersehen. „Ich spüre sie jetzt schon ganz intensiv. Ohne diesen Gedanken würde das Leben auch keinen Sinn machen. Man muss die Momente im Leben genießen, auf die es ankommt. Das sind die Momente mit der Familie. Viele andere Sachen sind für mich belanglos geworden.“
Marie Wagner ist an ihrem Todestag, dem 11. Juni 2014, 18 Jahre und vier Monate alt. Bei dem Kurznachrichtendienst „WhatsApp“ auf ihrem Handy hat sie an diesem Tag diesen Statuseintrag:
„Der Sommer meines Lebens“.
Online-Streitbeilegung
Die Europäische Kommission stellt unter http://ec.europa.eu/consumers/odr/ eine Plattform zur außergerichtlichen Online-Streitbeilegung (sog. OS-Plattform) bereit.
Keine Bereitschaft zur Teilnahme an Streitbeilegungsverfahren
Der Unternehmer ist grundsätzlich nicht bereit und verpflichtet, an Streitbeilegungsverfahren vor Verbraucherschlichtungsstellen im Sinne von § 36 Abs. 1 Verbraucherstreitbeilegungsgesetz (VSBG) teilzunehmen. Davon unberührt ist die Möglichkeit der Streitbeilegung durch eine Verbraucherschlichtungsstelle im Rahmen einer konkreten Streitigkeit bei Zustimmung beider Vertragsparteien (§ 37 VSBG).
https://ruhrnachrichten.creatavist.com/partnerfuersleben
Die schwarze Gefahr. Über eine Ölkatastrophe mitten in Deutschland.
https://ruhrnachrichten.creatavist.com/dieschwarzegefahr